Vor 75 Jahren: Die erste künstliche nukleare Kettenreaktion

Am 2. Dezember 1942 gelang Enrico Fermi und Leo Szilard an der Universität Chicago ein Durchbruch: 410 Tonnen Graphit, Uran und Uranoxid lieferten 28 Minuten lang eine stabile Kettenreaktion. Der Reaktor war der erste Schritt zur Atombombe.

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Vor 75 Jahren: Die erste künstliche nukleare Kettenreaktion gelang

Skulptur "Nuclear Energy" von Henry Moore an der Universität Chicago

(Bild: Richard Howe, P1000342, CC BY 2.0)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Ralf Bülow
Inhaltsverzeichnis

Heute schreiben wir das Anthropozän, davor lebten wir im Computer-, Kunststoff-, Weltraum- und Atomzeitalter. Bei letzterem kann man sich streiten, wann es anfing: War es 1945 mit der Atombombe auf Hiroshima oder 1954, als der erste Reaktor zur Energieversorgung in Betrieb ging? Oder fiel der Startschuss doch schon vor genau 75 Jahren, an dem Tag, an dem der erste Forschungsreaktor kritisch wurde? Doch zunächst geht es dorthin, wo einst vieles in Wissenschaft und Technik begann, nach Berlin.

Im Dezember 1938 experimentierten in Berlin-Dahlem im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie Otto Hahn und Fritz Straßmann mit Uran. Bei der Bestrahlung mit Neutronen ergab sich als Folgeprodukt radioaktives Barium. Die Physikerin Lise Meitner, die bis Juli 1938 im Institut mitgearbeitet hatte, fand im schwedischen Exil die Erklärung: das Uran hatte sich in das halb so leichte Barium geteilt – unter Abgabe von Energie. Die Kernspaltung war entdeckt.

Hahn und Straßmann publizierten ihre Resultate Mitte Januar 1939 in der Zeitschrift Naturwissenschaften. Am 26. Januar 1939 verkündete Nobelpreisträger Niels Bohr Lise Meitners Deutung auf einer Physikertagung in Washington. Noch während der Konferenz bestätigten US-amerikanische Forscher die Messungen aus Berlin. Was zuvor nur in utopischen Romanen stand, rückte plötzlich in den Bereich des Möglichen: immerwährende Energiequellen und alleszerstörende Superwaffen.

Erste künstliche Kettenreaktion (13 Bilder)

"Otto-Hahn-Tisch" des Deutschen Museums mit den Geräten der Berliner Experimente von 1938
(Bild: brewbooks, Nuclear Fission Deutsches Museum, CC BY 2.0 )

In Europa und den USA setzten Projekte zur praktischen Nutzung der Atomspaltung ein. An der New Yorker Columbia University forschten ab Frühjahr 1939 der Italiener Enrico Fermi – er gewann 1938 den Physiknobelpreis – und sein ungarischer Kollege Leo Szilard. Er hatte bereits 1934 in England ein Patent für einen hypothetischen Reaktor angemeldet, das von einer "chain reaction" sprach. Eine solche Kettenreaktion setzt Elementarteilchen frei, die andere Atome zur Produktion von Energie und von neuen Teilchen anregen.

1942 startete dann das streng geheime Manhattan-Projekt mit dem Ziel einer US-amerikanischen Atombombe. Eine der vielen Voraussetzung war der Nachweis einer stabilen Kettenreaktion, und diese Aufgabe übernahmen Fermi und Szilard. Die beiden arbeiteten inzwischen in der Universität Chicago. Die Aktivitäten der Hochschule zur Bombe liefen unter dem Namen Metallurgisches Labor. Dazu gehörte auch der "Chicago Pile 1" CP-1, der erste wissenschaftliche Atommeiler.

Unter der Oberleitung von Enrico Fermi begann am 16. November 1942 sein Aufbau. Der ausgewählte Platz war eine frühere Squash-Halle unter der Haupttribüne des Football-Stadions der Uni. Auf einer Fläche von 7,6 mal 7,6 Metern türmten dreißig Helfer in Tag- und Nachtschichten 45.000 Blöcke aus hochreinem Graphit auf. In ihnen steckten 19.000 Uran-Würfel und Uranoxid-Zylinder. Am Ende war das Gebilde gut sechs Meter hoch und wog 410 Tonnen.

Das Prinzip des Reaktors war einfach. Die Uranatome zerfielen in einem bestimmten Verhältnis und stießen dabei Neutronen aus, zwei bei jedem Zerfallsprozess. Die Graphitziegel bremsten oder "moderierten" die Teilchen. Sofern sie nicht im Graphit verblieben oder aber herausflogen, regten die verlangsamten Neutronen weitere Atome zur Spaltung und zur Produktion von Neutronen an. Außerdem wurde Wärme frei. Im Idealfall lief eine Kettenreaktion mit konstanter Neutronenbildung und Energieausbeute ab.