Vor 75 Jahren: Die erste künstliche nukleare Kettenreaktion

Seite 2: Ein Reaktor unter der Football-Tribüne

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Zur Steuerung des Reaktors dienten Holzstäbe, die schmale Streifen aus Cadmium trugen. Das Metall hat die Eigenschaft, Neutronen einzufangen. Die Physiker glaubten ihren Messgeräten und hofften, einen gefährlichen Neutronenanstieg rechtzeitig erkennen und stoppen zu können. Für den Notfall stand ein Eimer mit einer Cadmiumsalzlösung bereit, den ein Forscher über dem Reaktor ausgekippt hätte. Ansonsten war der einzige Strahlenschutz eine handelsübliche Ballonhülle, die den Graphitstapel umschloss.

Am 2. Dezember 1942 war CP-1 fertig. Auf dem Balkon daneben versammelten sich 49 Wissenschaftler, darunter Leo Szilard und Arthur Compton, der Chef des Metallurgischen Labors. Von 9:54 Uhr an wurden die Steuerstäbe vorsichtig herausgezogen und immer wieder die Neutronen gemessen. Gegen halb zwölf machte Fermi zweieinhalb Stunden Mittagspause. Um 15:25 Uhr setzte im Graphit die selbsterhaltende Kettenreaktion ein. 28 Minuten später überschritt der Neutronenfluss die Gefahrengrenze, und Fermi beendete das Experiment.

Die Wissenschaftler begossen den Erfolg vor Ort mit einer Flasche Chianti-Wein. Spätere Berechnungen zeigten, dass der Reaktor über viereinhalb Minuten eine Leistung von einem halben Watt erreicht hatte. Nach dem Versuch rief Arthur Compton den Chemiker James Conant an, Präsident der Harvard Universität und hochrangiger Politikberater: "Der italienische Seefahrer ist in der neuen Welt gelandet." Conant verstand ohne weitere Erläuterung.

CP-1 wurde in der Folgezeit noch einige Male kritisch. Ende Februar wurden die Graphitblöcke abgebaut und an den Stadtrand von Chicago transportiert. Dort bildeten sie den "Chicago Pile 2", der bis 1954 in Betrieb war. Am 4. November 1943 startete in Oak Ridge der Graphit-Reaktor X-10; im September 1944 folgte der größere "B Reactor" in Hanford. Sie erbrüteten aus Uran das Element Plutonium, das 1945 in der Atombombe für Nagasaki steckte. Die Hiroshima-Bombe nutzte das Uran-Isotop U-235.

Parallel zum Manhattan-Projekt lief in Deutschland das kleinere und dezentral organisierte Uranprojekt. 1942 stand in der Universität Leipzig ein Reaktor, der mit schwerem Wasser als Moderator arbeitete. Darin enthalten die Moleküle statt normalem Wasserstoff das Isotop Deuterium. Die Anlage wurde am 23. Juni 1942 durch eine Knallgasexplosion zerstört. Spätere Versuche in Berlin und im schwäbischen Haigerloch endeten ohne die gewünschte Neutronenausbeute.

Das Football-Stadion von Chicago erhielt 1952 eine Gedenktafel; fünf Jahre später wurden Tribüne und Squash-Halle abgerissen. Heute erinnert eine Skulptur von Henry Moore an die Kettenreaktion sowie ein Ölbild des Pressezeichners Gary Sheahan – am 2. Dezember 1942 nahm niemand Fotos auf. Enrico Fermi starb 1954, Leo Szilard 1964. Beide sind in einer Dokumentation zu sehen, die 1946 das Geschehen nachstellte. Ein fiktiver Fermi trat 1947 in einem atomgeschichtlichen Spielfilm auf (ab Minute 27:30).

1972 stießen französische Forscher in Uranerzen aus Afrika auf Spuren von Kernspaltungen. Sie ermittelten, dass sich im Erdreich vor zwei Milliarden Jahren ein mineralischer Atommeiler gebildet hatte. Der Naturreaktor Oklo lief etwa eine halbe Million Jahre. Gottvater – oder Mutter Erde – war also schneller als die Physiker gewesen. (mho)