Cyberdyne: Wieder gehen lernen

Das Exoskelett HAL lässt sich über Nervensignale steuern – und bringt so Gelähmte wieder auf die Beine.

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Von
  • Rainer Kurlemann

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Das alte Kesselhaus der Klinik Bergmannsheil in Bochum ist ein Ort der Hoffnung. In zwei Hallen stehen ein Dutzend Laufbänder. Die Menschen, die dort trainieren, sind querschnittgelähmt. Sie wollen eine Fähigkeit wieder erlernen, die sie meist durch einen Unfall verloren haben: das Gehen. Ein Exoskelett unterstützt sie dabei. Es stammt vom japanischen Roboterhersteller Cyberdyne, heißt HAL und ist der weltweit erste nervengesteuerte Roboteranzug. Leises Surren signalisiert, dass HAL aktiv ist. Motoren an Hüfte und Knie bewegen die Beine des Querschnittgelähmten.

Die meisten Exoskelette für Querschnittgelähmte funktionieren nach einem maschinellen Prinzip: Der Patient löst per Knopfdruck ein Bewegungsprogramm aus – aufstehen, laufen, Treppensteigen oder hinsetzen. HALs Funktionsweise dagegen ähnelt mehr den biologischen Abläufen beim Gehen: Gesteuert werden seine Gelenke von den wenigen Nervensignalen, die den Patienten trotz ihrer Lähmung in der Muskulatur geblieben sind. "Hier bewegt der Mensch den Roboter und nicht umgekehrt", erklärt Therapieleiterin Alina Rühlemann. Wenn der Patient nicht ans Laufen denkt, macht er auch keinen Schritt vorwärts.

Darauf beruht auch die Hoffnung, dass HAL viel mehr ist als eine Hightech-Gehhilfe: Sie soll Querschnittgelähmten nach der Therapie eine bessere Mobilität mit weniger Hilfsmitteln ermöglichen. Die Behandlung eignet sich zwar nur für Patienten, die nicht vollständig gelähmt sind. "Trotzdem verlieren auch sie häufig die Kontrolle über ihre Beine", sagt Rühlemann. 20 bis 30 Prozent der Querschnittgelähmten fallen in diese Kategorie.

Das Krankenhaus Bergmannsheil begleitet die Arbeit der Therapeuten mit klinischen Studien. Die Ergebnisse sind ermutigend. Die Patienten können eine längere Strecke gehen, sie laufen schneller als vorher, und ihre Haut wird empfindlicher für Berührungen. "Wir konnten in mehreren Studien zeigen, dass das regelmäßige Training erhebliche Verbesserungen der Bewegungsfähigkeit von querschnittgelähmten Patienten und unterschiedliche neuronale Normalisierungsprozesse bewirkt", erläutert Thomas Schildhauer, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums.

Allerdings können solche Studien nicht ermitteln, welcher Anteil am Erfolg dem Exoskelett zuzuordnen ist und welche Effekte bereits durch das intensive betreute Training entstanden sind.

TR 9/2017

20 Jahre benötigte Cyberdyne-Gründer Yoshiyuki Sankai für die Entwicklung. Schildhauer hat das Hilfsmittel nach Bochum gebracht. Der Chirurg hat täglich mit Rückenmarkverletzten zu tun. "Ich habe Sankai 2010 bei einem Vortrag in Bochum kennengelernt", sagt er. Bei einer Tagung in Tokio stellte Schildhauer ihm dann seine Ideen zur Anwendung des Robotersystems im klinischen Alltag vor. Die beiden vereinbarten eine Zusammenarbeit. Im August 2013 nahm das Trainingszentrum mit seinen sieben Therapeuten den Betrieb auf.

Äußerlich ist HAL eine überraschend einfache Maschine. Die Abkürzung steht für "Hybrid assistive limb". Die Beine des Patienten werden festgeschnallt und mit Elektroden an Beuge- und Streckmuskulatur versehen. Die Elektroden sind gewöhnliche Handelsware und messen die elektrische Spannung an der Hautoberfläche. Kabel führen von den Elektroden zur Steuerungselektronik der Motoren. Dort kann die Intensität der Bewegung eingestellt werden.

HAL ist nicht als Alltagshilfe geeignet, denn das Gerät kann einen Sturz nicht verhindern. In Bochum hängen die Betroffenen daher an Sicherheitsgurten. Sie trainieren drei Monate lang täglich mit dem Exoskelett auf einem Laufband. Zu Beginn greift der Roboter stärker ein, aber mit jeder Trainingswoche reduziert sich die Hilfestellung. Durch das Training gewinnen die Patienten Kraft und lernen, die Muskeln ihrer Beine wieder anzusteuern.

Der Kopf bekommt die ungewohnte Rückmeldung, dass die Beine aktiv sind. "Das Gehirn organisiert sein Bewegungsschema neu", erklärt Therapieleiterin Rühlemann. "Das ist ein wichtiger Schritt, um das selbstständige Gehen wiederzuerlangen." Bei Querschnittgelähmten sind häufig die Bereiche im Gehirn stärker ausgeprägt, die mit der Bewegung der Hände zusammenhängen. Das kann sich wieder zurück verschieben.

Eine Therapiestunde kostet 500 Euro. Unfallkassen und Berufsgenossenschaften haben sich schon bereiterklärt, die Kosten zu übernehmen. Krankenkassen entscheiden dies derzeit von Fall zu Fall. Die Therapeuten versprechen niemandem, dass er am Ende der drei Monate wieder selbstständig laufen kann. Die Verletzung des Rückenmarks wird auch durch die Roboterunterstützung nicht heilen. Die Hoffnung besteht darin, die Lebensqualität zu verbessern.

"Nach der Therapie benötigen die meisten Patienten weniger Hilfsmittel als vorher", berichtet Rühlemann. So kann es sein, dass die Patienten den Rollstuhl selbstständig ins Auto stellen können oder statt eines Gehwagens auch mit Gehstützen laufen können. Angesichts dieser Erfolge hält Schildhauer ein Umdenken bei der Rehabilitation von Rückenmarkverletzten für notwendig. "Wir haben die Patienten viel zu lange aktiv und komfortabel im Rollstuhl gehalten."

(bsc)