Die Sehnsucht nach Entvielung

Mit Information ist es ein wenig wie mit dem Bitcoin-Kurs: Man denkt, es wird weniger, aber dann wird es doch immer mehr – und unhandhabbarer. Auch wenn sich nunmehr bereits Künstliche Intelligenzen darüber hermachen, kann Information ein kolossales Problem sein.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Der Wikipedia-Artikel über Glyphosat hat knapp 120.000 Zeichen, das entspricht dem Mindestumfang eines Romans, der in die zur Frankfurter Buchmesse aufgestellte Bestenliste der Phantastik-Romane aufgenommen werden möchte. Das Informationsproblem quillt ungelöst aus den Fugen der digitalen Welt. Genauer gesagt die Tatsache, dass überdosierte Information keinen Wissenszuwachs darstellt.

Am Musterbeispiel der 2010 via Wikileaks veröffentlichten Iraq War Logs – 391.832 geheime Berichte aus fünf Jahren Irakkrieg – waren die heroischen Bemühungen der neu auf den Plan getretenen Datenjournalisten erkennbar, die Informationsflut zu kanalisieren, etwa mit Hilfe interaktiver Karten. Auch für die Glyphosat-Wissenslawine in ihrem Wikipedia-typischen spröden Charme gäbe es lieblichere Lösungen, Stichwort Skalierbarkeit – einen Schieberegler, mit dem sich Ausführlichkeitsgrad oder Detailtiefe eines Artikels regeln ließen. Warum sollte es nur für Asterix-und-Obelix-Comics Regionalisierungen in lokale Dialekte geben, wenn man auch Wikipedia-Artikel nicht nur mit Edit-Wars und Erbsenzählerei bearbeiten könnte, sondern auch mit unterschiedlich komplexen Versionen ihrer selbst?

In einem klassischen Print-Zeitungsartikel funktioniert die Skalierung übrigens meist immer noch deutlich besser und selbstverständlicher als in digital dynamisierbaren Erscheinungsformen. Im Titel steht, was der Vorspann nochmal etwas unknapper umreißt, was wiederum sich im ersten Absatz – was?, wer?, wann?, wo? – ein weiteres Mal wiederholt, diesmal einzelheitengetreu, um schließlich in einer erneuten Redundanzrunde das bereits mehrfach Angesprochene letztlich komplett auszuführen. Wer eine Sekunde auf die Headline schaut, hat schon mal die Grundinformation und kann, sofern er weiter interessiert ist, bei jedem neuen Vertiefungsdurchgang entscheiden: Ich weiß jetzt genug.

Zu den Materialtsunamis, die Google ausspuckt, kommen noch ambivalente kultursoziologische Entwicklungen. So hat der Schriftsteller und Soziologe Michael Rutschky schon zu Internet-Frühzeiten die Beobachtung gemacht, dass inzwischen eigentlich niemand mehr lesen mag – alle wollen nur noch schreiben. Dass die Produktion von ornamentiertem Blabla lange als Vorrecht gehobener Gesellschaftsschichten angesehen wurde, brachte der britische Viscount George Joachim Goschen 1894 so zum Ausdruck:

"Manchmal scheint es, als ob die moderne Welt an ihrer eigenen Fülle erstickt ... Die Texte in den Quarterlies [den vierteljährlichen Magazinen] reichen oft über 30 Seiten, aber 30 Seiten sind nun zu viel. Also werden wir Zeugen eines weiteren Schrumpfungsprozesses, und wir haben den Fortnightly und den Contemporary, die jeweils 30 Seiten auf 15 reduzieren, sodass man eine größere Anzahl von Texten in einem kürzeren Zeitraum und in kürzerer Form lesen kann. Und als ob dieser Schrumpfungsprozess noch nicht genug wäre, werden die komprimierten Texte dieser Publikationen von Tageszeitungen neuerlich komprimiert, die einem eine Kurzfassung der Kurzfassung von allem geben, das über alles geschrieben worden ist. Diejenigen, die an so vielen Themen nur nippen und Informationen in einer zusammengefassten und oberflächlichen Form zu sich nehmen, verlieren die Fertigkeit, große Werke zu unternehmen. Flüchtige Literatur vertreibt die großen Klassiker der Gegenwart und der Vergangenheit ... eiliges Lesen kann niemals gutes Lesen sein."

(Goschen, der auch drei Jahre lang als britischer Marineminister amtierte, verdanken wir übrigens auch die virtuose volkstümliche Kompaktinformation "Mr. Goschen has no notion of the motion of the ocean".)

1891 setzte der gleichfalls britische Schriftsteller Israel Zangwill nach: "Geistige Bequemlichkeit und die Geschwindigkeit unseres Zeitalters haben ein Verlangen nach literarischen Häppchen erzeugt. Das benommene Gehirn ist zu geschwächt für nachhaltiges Denken. Noch nie gab es eine Zeit, in der so viele Menschen in der Lage waren, so schlecht zu schreiben."

Mit der kulturpessimistischen Perspektive liegt man nie falsch. Ein endloser, aus Zeitmangel, Korrektoratsmangel und Redaktionsreduktion entsprungener unlektorierter, unredigierter, unkuratierter Textstrom ergießt sich aus dem Internet über uns. Wer übrigens glaubt, das Schreiben sei früher beschaulich gewesen und erst heute von Beschleunigung ergriffen, sollte einen Blick auf Jane Austen (1775-1817) werfen, die, während sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts in London lebte, mehr als 3000 Briefe an ihre Schwester Cassandra geschrieben hat. Man sollte nicht denken, dass die Post damals langsam war: Die Schwestern korrespondierten ständig; in dem Augenblick, in dem eine einen Brief fertiggeschrieben hatte, begann sie bereits den nächsten zu schreiben. Sie teilten jede Minute ihres Lebens miteinander. Zu Lebzeiten von Austen wurde in London sechsmal pro Tag Post zugestellt. Manchmal kam ein Brief, der am Morgen abgeschickt worden war, bereits am Abend an.

Soll also niemand glauben, dass die Vielschreiberei und journalistische Gegenwartssucht ein Phänomen ist, das erst heutzutage zum Vorschein kommt. Einer der exzessivsten Proto-Blogger war der Architekt Buckminster Fuller, der sein Leben in einer unglaublichen Ausführlichkeit dokumentiert hat: Von 1915 an schrieb er 68 Jahre lang alle 15 Minuten einen Eintrag in ein Journal. Als Fuller am 1. Juli 1983 starb, hinterließ er 80 laufende Meter an Notizbüchern. Ein Biograph nannte Fuller den "Mann ohne Rätsel."

(bsc)