Und jetzt?

Die Energiewende geht in eine entscheidende Phase: Verkehr, Wärmemarkt und Rohstoffindustrie müssen auf Strom aus Wind und Sonne umgestellt werden. Sonst sinkt weder der Kohlendioxidausstoß noch lässt sich die Stromversorgung stabilisieren. Doch die Energiepolitik steht sich dabei selbst im Weg.

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Dieser Artikel-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft 02/2018 ist ab dem 25.01.2018 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

Mit 3700 Gigawattstunden ließen sich knapp zwei Millionen Elektroautos ein Jahr lang betreiben. Oder eine Million Vier-Personen-Haushalte. Doch Deutschland hat diese Menge Strom 2016 gewissermaßen durch den Schornstein geblasen. Um das Stromnetz nicht zu überlasten, wurden vor allem Windräder regelmäßig abgeschaltet.

Der viele Ökostrom verursacht bisweilen absurde Folgen im Strommarkt: Am Neujahrsmorgen um sechs Uhr lieferten Wind, Wasserkraft und Biomasse erstmals in der Geschichte hundert Prozent des gesamten deutschen Strombedarfs. Weil aber die schlecht regulierbaren Kohlekraftwerke weiterliefen, sanken die Kosten für eine Megawattstunde an der Strombörse zeitweise auf minus 76 Euro. Wer Strom einspeisen wollte, musste also draufzahlen. Gleichzeitig meldete der Netzbetreiber Tennet für das Jahr 2017 Rekordkosten von rund einer Milliarde Euro für Eingriffe, um das Netz zu stabilisieren.

Außerhalb des Stromnetzes macht sich erneuerbare Energie hingegen noch rar: Bei der Wärmeversorgung für Haushalte und Industrie beträgt ihr Anteil lediglich gut 13 Prozent, beim Verkehr 5. Dabei verursachen diese Sektoren gemeinsam rund zwei Drittel der gesamten CO2-Emissionen. Um seine selbstgesteckten Klimaziele zu erreichen, muss Deutschland auch diese Sektoren stärker angehen. Was also liegt näher, als einen Überschuss an Energie dorthin zu verschieben, wo Bedarf herrscht?

Unter dem Stichwort Sektorkopplung häufen sich Kongresse und Studien, die diesen energetischen Verschiebebahnhof sondieren. Im November haben etwa die Wissenschaftsakademien Leopoldina, Acatech und Akademienunion eine 200-seitige Untersuchung zur „Entwicklung eines integrierten Energiesystems“ vorgelegt, an der rund hundert Fachleute mitgewirkt haben. Die Autoren sehen nun die zweite Phase der Energiewende gekommen: In der ersten Phase ging es um Entwicklung und Ausbau der nötigen Basistechnologien. Nun sei die Zeit der „Systemintegration“ gekommen. „Das heißt konkret, Strom überall dort direkt zu nutzen, wo es am effizientesten ist – etwa in Elektroautos und Wärmepumpen –, Batterien als Kurzzeitspeicher einzusetzen und flexible, digital gesteuerte Stromnutzungsmodelle zu entwickeln“, heißt es in der Kurzfassung der Studie.

Technisch ist die Kopplung von Elektrizität, Wärme und Verkehr kein großes Problem, denn kein Energieträger ist so vielseitig einsetzbar wie Strom. Eine der einfachsten Maßnahmen ist es, eine Art Tauchsieder in einen Wasserkessel einzubauen – im kleinen Maßstab etwa zur Unterstützung der Hausheizung, im großen bei einem Blockheizkraftwerk. Noch effizienter geht es mit Wärmepumpen. Auf diese Weise verringert sich der Bedarf an Gas oder Heizöl, um Wärme zu erzeugen (siehe S. 80). Im Verkehr lassen sich mit Elektroautos viele Tausend Tonnen fossiler Brennstoffe sparen (siehe S. 76). Zudem eröffnet Strom eine riesige Auswahl chemischer Pfade: Per Elektrolyse gewonnener Wasserstoff kann nicht nur zu Kraftstoffen umgewandelt werden, sondern auch zu Basischemikalien (siehe S. 82).

Doch wenn das alles so einfach ist – warum geht es dann so schleppend voran? Tatsächlich wird die Aufgabe umso komplexer, je tiefer man in die Details eindringt. Denn es geht ja nicht darum, einfach nur überschüssigen Strom halbwegs sinnvoll loszuwerden. Das ist vergleichsweise trivial – zur Not könnte man damit auch die Bürgersteige heizen. Doch eine Anwendung für Strom zu finden, die sich gut mit dem Stromnetz verträgt, möglichst viel fossilen Brennstoff verdrängt und gleichzeitig wirtschaftlich ist, gestaltet sich schon schwieriger.

Heizt ein Haushalt beispielsweise nur noch mit Strom – etwa per Nachtspeicherofen oder Wärmepumpe –, wäre zwar der Verdrängungseffekt maximal. Wenn es aber kalt wird, muss schnell viel Strom herangeschafft werden, egal woher. Schwächeln die Erneuerbaren gerade, müssen zur Not auch Kohlekraftwerke herhalten. Eine schlecht durchdachte Sektorkopplung belastet Netz und Klima also möglicherweise zusätzlich.

Ihre ganze Stärke kann die Sektorkopplung hingegen ausspielen, wenn sich überschüssiger Strom nicht nur sinnvoll nutzen, sondern bei Bedarf auch wieder zurückspeisen lässt. Die gern unter dem Kürzel „Power-to-X“ (PtX) zusammengefasste elektrische Erzeugung von Wasserstoff, Methan oder Flüssigtreibstoff ist ein entscheidendes Scharnier dafür. „Der weitere Ausbau fluktuierender Erneuerbarer wird zunehmend zu großen Strommengen führen, die nicht mehr direkt oder durch Kurzzeitspeicher und Lastmanagement abgenommen werden können“, argumentieren die Akademien. Wasserstoff werde deshalb die dritte Phase der Energiewende ab Ende der 2020er-Jahre „maßgeblich prägen“.

Ob auch synthetische Kohlenwasserstoffe („Power-to-Gas“ beziehungsweise „Power-to-Liquid“) etwas im Energiesystem der Zukunft zu suchen haben, ist allerdings umstritten. „In allen untersuchten Szenarios ist das Erreichen der Klimaschutzziele nur mit dem Einsatz synthetischer Brenn- und Kraftstoffe möglich“, schreibt die halbstaatliche Deutsche Energie-Agentur Dena. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält dagegen: Ihr Nutzen als Speicher werde von der „energetischen Ineffizienz weit überkompensiert“. Sinnvolle Anwendungen für synthetische Kraftstoffe sieht der Rat lediglich bei Langstrecken-Lkw, Containerschiffen oder Verkehrsflugzeugen, die auf absehbare Zeit nicht batterieelektrisch angetrieben werden können.

Bei der Diskussion wird gern übersehen, dass nicht jeder Energiespeicher gleichzeitig auch ein Stromspeicher ist. Elektrisch erzeugte Kohlenwasserstoffe können zwar relativ einfach große Mengen Energie speichern, aber schon bei ihrer Herstellung geht viel davon verloren. Werden sie wieder verstromt, sinkt ihr Wirkungsgrad weiter.

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Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 70 - Trend: Die Energiewende erfordert bereichsübergreifende Strategien

Seite 74 - Grafik: So fließt die Energie im neuen System

Seite 76 - E-Autos: Mobil bleiben, ohne das Stromnetz zu überlasten

Seite 80 - Wärme: Heizen mit Strom steht vor einer Renaissance

Seite 82 - Chemie: Strom statt fossiler Brennstoffe: So will die Großindustrie umsteuern (grh)