"Hörensagen": Fake News sind keine Erfindung der Neuzeit

Fake News sind wie Sagen, zeigt eine Ausstellung in Kassel. Sie widmet sich dem Thema und schlägt den Bogen zu heutigen Falschinformationen im Internet. Dabei können die Besucher selbst Teil einer Fake News werden.

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Kasseler Schau Hörensagen: Fake News sind keine Erfindung der Neuzeit

(Bild: Grimmwelt Kassel, Tanja Jürgensen)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Göran Gehlen
  • dpa

US-Präsident Donald Trump bezeichnet sich auf Twitter selbst als "stabiles Genie". Der sächsische Kurfürst August der Starke ließ über sich verbreiten, er könne Hufeisen mit Händen zerbrechen. Zwischen beiden Männern liegen mehrere Hundert Jahre. Doch das Prinzip ist das gleiche: Es handele sich um eine "persönliche Legendenbildung zur Selbstvermarktung", sagt Susanne Völker, Geschäftsführerin der Grimmwelt in Kassel. Erfunden haben das Prinzip allerdings weder der US-Präsident noch der Kurfürst. Es existiert, seit es Sagen gibt.

"Hörensagen" heißt die Sonderpräsentation, die derzeit in dem Ausstellungshaus läuft. Sie beginnt bei den Sagen des 19. Jahrhunderts der Brüder Grimm und endet bei den Fake News, die heute durch soziale Medien geistern. "Sagen haben einen wahren Kern, sie beziehen sich auf reale Persönlichkeiten, Orte und Begebenheiten", sagt Völker, die die Ausstellung kuratiert hat. Ursprünglich seien Sagen mündlich verbreitet worden. "Und jeder schmückte die Geschichte weiter aus", erklärt Völker.

Eine Verbindung von Sagen zu Fake News sieht auch Holger Ehrhardt, Brüder-Grimm-Professor an der Universität Kassel. "Der Kontrollverlust über den Gang der Erzählung ist das, was beides eint", sagt er. Während die mündlichen Überlieferungen durch Versmaß und Reim in der Antike noch relativ zuverlässig waren, hätten durch Prosa Vergesslichkeit und Varianz Einzug gehalten. Mit dem Internet habe man heute einen "unkontrollierbaren Raum, in dem etwas weiter erzählt werden kann". Das sei mit der mündlichen Verbreitung von Sagen vergleichbar.

Als gutes Beispiel für eine Sage nennt Grimmwelt-Leiterin Völker den Rattenfänger von Hameln: "Die Sage ist an einen Ort geknüpft und gehört zur Stadthistorie", sagt sie. Dass eine Rattenplage Hameln heimsuchte und die Tiere vertrieben wurden, sei nachvollziehbar. Dass ein Rattenfänger die Kinder der Stadt als Preis mitnahm, sei eher unwahrscheinlich. "Wir haben eine hohe Affinität zu wahren Geschichten, sind aber auch bereit, uns auf alles einzulassen, was sie interessanter macht", erklärt Völker. Wer das verstanden habe, könne es sich zunutze machen.

Eine Maschine im Herzen der Ausstellung simuliert spielerisch das Prinzip. Die Sagenmaschine des Berliner Studio "The Green Eyl" macht aus Selbstporträts der Besucher Geschichten. Ein bleicher Mann im mittleren Alter ohne Bart mit kühlem Gesichtsausdruck? Das muss ein Geist sein. Also war ein Geist im Januar in Kassel in der Grimmwelt, heißt es auf Bildschirmen und einer Textleiste an der Wand. Dann spinnt der Computer die Geschichte weiter. Bei Vollmond treibe der Geist sein Unwesen in der Karlsaue, die gleich nebenan liegt. Mit jeder Version verwässern die Fakten - Person, Ort und Zeit - mehr.

Das Prinzip erinnert an Paparazzi-Fotos von Prominenten: Ein grimmiger Gesichtsausdruck oder ein paar Kilo weniger am Bauch werden in Illustrierten als Hinweise auf eine Beziehungskrise oder Magersucht interpretiert. "Das ist auch das, was in sozialen Medien passiert", sagt Völker. Selbst Gefährderprofile und Werbezielgruppen würden nach ähnlichen Prinzipien erstellt.

Die Ausstellung in Kassel bleibt aber im Bereich der Märchen. Es sei nur darum gegangen, das Prinzip aufzuzeigen, sagt die Grimmwelt-Leiterin. Donald Trump und Fake News sind allgegenwärtig, aber nirgends zu sehen. Für letztere können die Besucher selber sorgen: Über ein Rohrsystem können sie sich Geschichten erzählen - ohne zu wissen, wer am anderen Ende steht und zuhört.

Die Sonderpräsentation Hörensagen anlässlich 200 Jahre "Deutsche Sagen" der Brüder Grimm ist noch bis zum 21. Mai in der Grimmwelt Kassel zu sehen. (olb)