Zeit-Synchronisation per Stromnetz: Energieknappheit lässt Uhren nachgehen

Sie haben heute Morgen Ihre Bahn verpasst, weil der Radiowecker einige Minuten hinter der offiziellen Zeit liegt? Das dürfte am akuten Energiemangel liegen und Sie haben nun einen guten Grund, sich einen funksynchronisierten Wecker zuzulegen.

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Netzfrequenz 1.3.2018

(Bild: netzfrequenz.info)

Lesezeit: 3 Min.

Viele Radiowecker und stromnetzgespeiste Uhren etwa in Mikrowellenherden nehmen die nominelle Frequenz der Netzspannung von 50 Hertz als Taktgeber. Das ist billiger als zusätzlich einen frequenzstabilen Quarzoszillator einzubauen. Solche Synchronuhren gibt es schon seit der elektromechanischen Ära und bisher hat die Konstanz der Netzfrequenz für eine mittelfristig zuverlässige Zeitanzeige ausgereicht. Das scheint sich zurzeit zu ändern: Laut Leserberichten sind solche Uhren in den vergangenen Tagen immer weiter hinter die über andere Systeme (Langwellenfunk, DCF77 oder Internet, NTP) verbreitete gesetzliche Zeit zurückgefallen.

Tatsächlich halten die Produzenten die Frequenz im europäischen Stromnetz im Mittel ziemlich genau bei 50 Hertz. Nur so synchronisiert können Kraftwerke im Verbundnetz den gesamten Energiebedarf überhaupt stemmen. Denn abhängig unter anderem von der Tageszeit schwankt die abgenommene Energie: Wird mehr gefordert als produziert, dann sinkt die Frequenz minimal, vielleicht um ein paar Hundertstel Hertz. Wird die Abweichung zu stark, gleichen die Versorger durch erhöhte Einspeisung aus. Wird später mehr produziert als abgenommen, steigt die Netzfrequenz wieder leicht über den Sollwert.

Netzsynchronisierte Uhren nutzen nun eben diese schwankende Frequenz als Taktgeber. Dass diese Uhren inzwischen mehrere Minuten nachgehen, ist ein Indiz dafür, dass seit Längerem zu wenig sogenannte Regelleistung aus kurzfristig zuschaltbaren Quellen wie etwa Gaskraftwerken ins Netz gespeist wird.

Die Netzfrequenz lag am 28.2.2018 oft ein gutes Stück unter den nominellen 50 Hertz.

(Bild: netzfrequenz.info)

Der Leistungsmangel scheint aktuell ein Dauerzustand zu sein, was Statistiken wie das Frequenzhistogramm auf netzfrequenz.info andeuten: Am gestrigen 28. Februar 2018 lagen die meisten Einzelwerte unter 50 Hz. Auch zum Mittag des 1. März 2018 zeigte die Netzfrequenz eine Tendenz in Richtung zu niedriger Werte (siehe Bild oben). Der Schweizer Versorger Swissgrid beziffert am 1.3.2018 die aufgelaufene Abweichung der Netzzeit gegenüber der gesetzlichen Zeit auf mehr als 5 Minuten.

Über den Grund für die zu geringe Regelleistungszuführung können wir nur spekulieren. Eine Anfrage von heise online an den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) blieb bis Redaktionsschluss dieser Meldung unbeantwortet.

Die naheliegendste Möglichkeit: Zwar ist die Kilowattstunde am Spotmarkt mit aktuell 4 Cent im Intraday-Geschäft erheblich billiger als an der heimischen Steckdose. Dennoch dürfte den Akteuren das vollständige Ausgleichen der Netzfrequenzabweichung durch dort eingekaufte, aber eventuell dann doch nicht abgerufene Stromreserven schlicht zu teuer sein. Erst wenn die Differenz so sehr wächst, dass ein Auseinanderbrechen des Verbundnetzes in Inseln und vollständige Ausfälle in diesen drohen, werden sie nachhaltiger durchgreifen.

Das passiert aber erst bei sehr großen Abweichungen: Kurzfristig sind 49,2 Hz erlaubt. Erst unter 49 Hertz werden stufenweise Lasten abgeworfen. Bis dahin ist es von den aktuellen 49,9x Hertz noch ein gutes Stück. Mit Überraschungen muss man trotzdem rechnen, doch Ausfälle mit europaweiten Auswirkungen sind glücklicherweise selten.

Klar ist nur eines: Als allzeit verlässliche Referenz taugt die Netzfrequenz nicht mehr. Besitzer von Synchronuhren müssen diese nun, möglicherweise nicht nur im Winter, häufiger nachstellen – oder durch ein funkgesteuertes Modell ersetzen. (ea)