Wettrennen um das künstliche Gehirn

Deep Learning und auf KI spezialisierte Beschleunigerchips sind erst der Anfang. Weltweit arbeiten sich Chipentwickler von der einen und Neurowissenschaftler von der anderen Seite auf ein Ziel zu: Lernfähigkeit und Energieeffizienz des Gehirns zu kopieren. Die nächste Hardware-Generation kommt dem ein gutes Stück näher.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Christian Honey
  • Mitchell Waldrop

Selbstfahrende Autos, Gesichtserkennung, Sprachassistenten – tiefe neuronale Netze verblüffen mit immer besseren Leistungen. Ihre Arbeitsweise folgt den Prinzipien biologischer Nervensysteme: Neuronen empfangen Signale über Synapsen, verrechnen sie und schicken das Resultat an andere Neuronen. Sie sind in Schichten aufgebaut, und sie lernen, indem sie die Effizienz verändern, mit der Synapsen die Impulse übertragen. So weit, so hirnartig.

Trotzdem sind künstliche neuronale Netzen extrem vereinfachte Abbilder dessen, was Neurowissenschaftler in Gehirnen tatsächlich beobachten (siehe Seite 33). Gehirne sind wesentlich stärker vernetzt, und sie schicken Impulse zwischen ihren Schichten hin und her. Echte Neuronen sind zudem keine eindimensionalen Integrationseinheiten, sondern räumlich ausgedehnte Wesen mit Ästen voller Synapsen. Und sie arbeiten nicht nur digital, sondern integrieren Informationen auch analog.

Einiges spricht dafür, dass diese Unterschiede der Grund dafür sind, warum selbst die modernsten neuronalen Netze auf den besten Supercomputern nicht mit der Auffassungsgabe einer Dreijährigen mithalten. Deshalb arbeiten Industrie und Forschung nun an „neuromorpher“ Hardware, die Architektur und Arbeitsweise des Gehirns so exakt nachbaut, wie es die heutige Chiptechnologie erlaubt. Diese neuromorphen Maschinen sollen kontinuierlich aus Sinnesdaten lernen und Hirnforschern helfen, unser Denken besser zu verstehen.

TrueNorth heißt einer der Ansätze. Der Chip ist das Produkt des SyNAPSE-Projekts der US-Forschungsagentur Darpa, verwirklicht von IBM, Hewlett-Packard und dem Hughes Research Lab. Er besteht aus einem Netzwerk aus 4096 „neurosynaptischen“ Rechnerkernen, die parallel die Aktivität von rund einer Million Neuronen simulieren. Jedes Neuron kann 256 Inputs von anderen integrieren und hat dafür individuell programmierbare Input-Kanäle (Synapsen).

Neuromorph an TrueNorth ist, dass der Chip mit einem alten Prinzip der Rechnerarchitektur bricht: der Trennung von Prozessor und Speicher. Denn auch im menschlichen Gehirn ist jede der 100 Milliarden Nervenzellen zugleich Speicher und Prozessor einer kleinen Menge an Informationen. In TrueNorth hat deshalb jeder Rechenkern seinen eigenen Speicher, der den Zustand der Neuronen und Synapsen kontinuierlich aktualisiert. Das ist kein perfektes Abbild, aber dem Aufbau des Gehirns deutlich näher als jeder klassische Rechner.

Dennoch wäre TrueNorth ohne konventionelle Computer aufgeschmissen. Denn der Chip selbst kann keinen Lernalgorithmus ausführen. Alles Training, zum Beispiel für das Erkennen von Objekten, findet auf anderen Computern statt, die ein Software-Modell von TrueNorth simulieren. Das Resultat, also die Verbindungsstärken (fachsprachlich Gewichte) der Synapsen, werden nach dem Training auf die echten Rechnerkerne von TrueNorth kopiert.

Neben dem Aufbau ähnelt auch die Arbeitsweise von TrueNorth dem Gehirn. Denn statt einem einheitlichen Prozessortakt zu folgen, arbeiten seine Rechnerkerne „eventbasiert“: Wie im Nervensystem generieren die Neuronen als Output binäre Impulse, Aktionspotenziale oder „Spikes“. Der Vorteil: Nur wenn ein Neuron einen Spike als Input bekommt, wird sein Rechnerkern aktiv. Das macht TrueNorth außergewöhnlich energieeffizient. Er verbraucht mit 70 Milliwatt im Vergleich zu handelsüblichen Chips nur rund ein Zehntausendstel.

„Auch in biologischen neuronalen Netzen feuern Neuronen extrem selten“, sagt Karlheinz Meier, Professor für Experimentalphysik an der Uni Heidelberg. Er arbeitet im Rahmen des Human Brain Project (siehe Kasten S. 36) selbst an einem neuromorphen Chip, dem BrainScaleS, der ebenfalls digitale Spikes zur Kommunikation nutzt. „Spikes sind ein zentraler Grund dafür, dass Gehirne so energieeffizient sind“, sagt Meier.

(wst)