Das Problem mit der Wirklichkeit

Simulationen sind gleichzeitig Allzweckwaffe und eine Quelle für Missverständnisse. Doch richtig angewendet und vor allem richtig kommuniziert, können sie die Welt voranbringen.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Eva Wolfangel

Immer ist es der Mensch, der alles durcheinanderbringt! Da hat man eine schöne Simulation, wie auf der Autobahn trotz dichtem Verkehr alles fließt. Doch im echten Leben bildet sich auf einmal ein Stau – ohne Unfall, ohne Grund. Da befragt man monatelang US-Bürger, welchen Präsidenten sie denn zu wählen gedenken – und dann liegt die Prognose grandios daneben, weil sie sich aus unerfindlichen Gründen anders entschieden haben. Da berechnet man, wie sich rationale Menschen in einer Bankenkrise verhalten würden – und dann tun sie plötzlich ganz irrationale Dinge.

Computersimulationen machen einerseits Hoffnung, den teuren Umweg über Versuch und Irrtum in der echten Welt abzukürzen. Andererseits bergen sie Fehlerquellen. Schließlich müssen die entscheidenden Faktoren gefunden werden und möglichst korrekt in das Modell einfließen. Von Medikamententests über Verkehrsflüsse und Ampelschaltungen, von Gravitationswellen bis zu Vorgängen im menschlichen Körper – in unzähligen Bereichen werden Entscheidungen auf der Grundlage von Simulationen getroffen. Die Vorgänge im Computer werden dadurch zur Realität. Zu Recht?

Eine Hauptfehlerquelle ist es, die unberechenbare Seite des Menschen zu vergessen. Davon kann Michael Schreckenberg ein Lied singen. Der theoretische Physiker an der Uni Duisburg-Essen wurde 1992 durch das Nagel-Schreckenberg-Modell bekannt, mit dem es erstmals möglich war, den „Stau aus dem Nichts“ zu simulieren. „Wir haben ein Rauschen eingeführt“, sagt Schreckenberg, „den sogenannten Trödelparameter“.

Was im Nachhinein fast banal wirkt, fehlte bis dato allen Modellen: Zäh fließender Verkehr blieb bei diesen stets zäh fließend, solange es keinen konkreten Anlass für einen Stau gab. Aber in Schreckenbergs Modell gibt es auch Menschen, die ohne Grund etwas langsamer fahren. Die hinter ihnen bremsen dann kurz – „und es entsteht eine Stauwelle, die sich mit 15 Kilometern pro Stunde nach hinten bewegt“. Schreckenberg nennt das auch den „Elbtunnel“-Effekt: Im Tunnel geht es bergauf, was aber viele Fahrer nicht bemerken, weil die Umgebung eintönig ist. Wer nicht auf den Tacho schaut, fährt unwillkürlich langsamer – und verursacht womöglich einen Stau aus dem Nichts.

Die Verkehrssimulation ist ein schönes Beispiel für die mühsame Suche nach einem Modell, das der Wirklichkeit möglichst nahe kommt. „Erste theoretische Verkehrsmodelle kamen aus der Wellentheorie“, erklärt Schreckenberg – aber das passte nicht. „Wasser ist nicht kompressibel, Verkehr aber schon.“

Noch schwieriger wird es, Bewegungen von Menschen außerhalb von Autos zu simulieren: Dann fehlt die Spurführung. Fußgänger verlassen gern die vorgegebenen Wege und laufen querfeldein. Hier stoßen Simulationen an ihre Grenzen: „Das Verhalten von Fußgängern, wenn sie die freie Wahl haben, ist nach wie vor die große Unbekannte in der Forschung“, sagt Andreas Schadschneider. Der Professor für theoretische Physik an der Uni Köln simuliert unter anderem die Evakuierungen von Stadien oder Konzerthallen. Hier sind zumindest einige Variablen bekannt: Das Ziel der Menschen – der Notausgang – sowie der Wille, das Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. „Wenn Menschen nicht auf dem direkten Weg zum Notausgang wollen, sind ihre Bewegungen schwieriger zu simulieren“, sagt Schadschneider. Und selbst in Notsituationen streben nicht alle zum nächstgelegenen Ausgang, sondern bevorzugen den bekannten Weg, auf dem sie gekommen sind – auch wenn dieser weiter ist. Das Irrationale der Menschen macht den Wissenschaftlern das Leben schwer.

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 70 - Überblick: Vom Verkehr bis zur Medizin – Simulationen sind wichtige Entscheidungshilfen

Seite 74 - Ökonomie: Agentenbasierte Systeme bilden ganze Volkswirtschaften im Computer ab

Seite 76 - Porträt: Eberhard Voit will die Biologie berechenbar machen

Seite 78 - KI: Neuronale Netze lernen in virtuellen Übungsräumen, reale Probleme zu lösen

Seite 80 - Interview: Wir leben alle in einer Simulation – vermutet der Philosoph Nick Bostrom

(ksc)