Wartung statt warten

Predictive Maintenance ist die Killeranwendung von Industrie 4.0. Doch eine Studie zeigt: Die vorausschauende Wartung steckt noch in den Kinderschuhen. Viele Betriebe haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

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Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Bernd Müller

Flugzeugbauer tun es, Hersteller von Kraftwerken tun es und neuerdings auch Maschinen- und Anlagenbauer: Die Rede ist von Predictive Maintenance. Die vorausschauende Wartung ist die Killeranwendung von Industrie 4.0, an sie knüpfen sich große Hoffnungen auf neue Geschäftsmodelle.

Die Idee ist bestechend: Statt darauf zu warten, bis eine Maschine ausfällt und dann hektisch Fehler zu suchen und Ersatzteile zu bestellen, ahnt man Defekte mittels Sensorik und schlauen Computeralgorithmen voraus und tauscht Teile aus, bevor sie tatsächlich kaputt gehen. Das spart Nerven und langfristig auch Kosten.

„Das Bullshit-Niveau ist beim Thema Predictive Maintenance ziemlich hoch“, findet dagegen Jochen Schlick, Mitgründer der Unternehmensberatung Staufen-Neonex. Die Stuttgarter unterstützen fertigende Betriebe bei der Digitalisierung und Industrie 4.0. Im vergangenen Herbst haben sie unter 394 Betrieben des produzierenden Gewerbes eine Umfrage zur Umsetzung von Industrie 4.0 gemacht, darunter auch zu Predictive Maintenance.

Die Resultate sind ernüchternd. Zwei Drittel der Unternehmen geben an, bereits Predictive Maintenance einzusetzen, entweder unter eigener Regie oder von einem Dienstleister. Schaut man allerdings genauer hin, entpuppen sich viele der Lösungen nicht als vorausschauend, sondern fallen bestenfalls unter die Rubrik „Condition Monitoring“, also die reine Beobachtung des Betriebs einer Maschine, wobei auch die Überwachung durch das Personal darunterfällt.

Dass Skepsis angebracht ist, zeigen auch die Antworten auf die Frage „Wie beurteilen Sie allgemein das Leistungsvermögen der aktuell am Markt verfügbaren Predictive-Maintenance-Angebote?“. Die Mehrheit von 74 Prozent hält die verfügbaren Anwendungen für ausbaufähig oder schätzt ihren Nutzen noch gering ein. Ein Fünftel traut sich kein Urteil zu, ist sich also möglicherweise unsicher, was unter dem Begriff überhaupt zu verstehen ist. Nur sechs Prozent bewerten das Leistungsvermögen als hoch oder sehr hoch.
Das ausbaufähige Ergebnis der Umfrage könnte auch damit zusammenhängen, dass die Befragten unter ein und demselben Begriff unterschiedliche Dinge verstehen. Tatsächlich gibt es fünf Stufen – Experten sprechen auch von Reifegraden – der (vorausschauenden) Wartung:

Stufe 1: Ereignisbasierte Wartung. Eine Maschine gibt überraschend ihren Geist auf, das Wartungspersonal kommt und tauscht das defekte Teil aus. Hier gibt es keine Technik, die irgendetwas vorhersieht, vielmehr erfolgt die Wartung rein reaktiv – Wartung durch Warten sozusagen. „Diese Methode ist nicht nur die häufigste, sondern oft auch die sinnvollste“, empfiehlt Jochen Schlick. Das wird all jene enttäuschen, die in der vorausschauenden Wartung den Königsweg zu geringeren Maschinenausfällen und ein lukratives Geschäft für Sensor- und Softwarehersteller wittern. Laut Schlick ist das aber oft nicht nötig. „Wenn sie die Ersatzteile auf Lager haben und wissen, was bei einem Ausfall zu tun ist, spricht nichts gegen dieses Modell, zumal rein technische Ausfälle recht selten sind.“

Die Furcht vor langen Standzeiten und Produktionsausfällen ist ebenfalls oft unbegründet. Bei seinen Beratungseinsätzen spricht das Team von Staufen Neonex mit dem Bedien- und Wartungspersonal, um herauszufinden, wie oft bestimmte Maschinen ausfallen und wie diese dann wiederinstandgesetzt werden. Dabei zeigt sich am Beispiel von typischen spanenden oder umformenden Metallbearbeitungsmaschinen: Im Schnitt gehen nur winzige zwei Prozent der Stillstandzeiten auf das Konto einer „technischen Nichtverfügbarkeit“, sprich: eines Defekts durch Verschleiß oder Ermüdung. Mit 17 Prozent an der Spitze sind Zeiten zum Umrüsten der Maschine, das Einrichten von Werkzeugen und einiges mehr, sogar die Vesperpausen des Personals sorgen für mehr Maschinenstillstand. Nur 52 Prozent der Zeit arbeitet eine Maschine wirklich produktiv. Würde man mit einer perfekt funktionierenden vorausschauenden Wartung alle Defekte ausschalten, käme man folglich auch nur auf 54 Prozent – ein ziemlich schwaches Argument, die teure Technik einzuführen.

Stufe 2: Zeitbasierte Wartung. Die einzige Technologie, die man für diese Art der Wartung benötigt, ist ein Kalender. Darin steht, wann welche Verschleißteile auszutauschen sind. Die Laufzeiten und Fristen sind immer gleich und orientieren sich an Erfahrungswerten.

Stufe 3: Nutzungsbasierte Wartung. Auch hier spielt die Zeit die entscheidende Rolle, allerdings liegt hier die tatsächliche Nutzungszeit zugrunde. Ein Teil kann nur verschleißen, wenn die Maschine tatsächlich läuft. Diese Daten werden in einer Datenbank gesammelt, ist die maximal empfohlene Nutzungszeit für ein Verschleißteil überschritten, gibt die Software einen Hinweis aus.

Stufe 4: Zustandsbasierte Wartung. Hier spielt es keine Rolle mehr, wie lang eine Maschine gelaufen ist, entscheidend ist der Zustand der typischen Verschleißteile. Ab hier sind Sensoren nötig, um diesen Zustand zu erfassen. Das können zum Beispiel Vibrationssensoren sein, die eine zunehmende Unwucht in einem Lager messen. Überschreitet ein Messwert eine zulässige Grenze, gibt die Software einen Alarm aus. Nicht immer ist Technik notwendig. Ein erfahrener Maschinenführer erkennt eine ausgeschlagene Führung einer Spindel in einer Werkzeugmaschine am zunehmenden Lärm.

Stufe 5: Predictive Maintenance. Erst in dieser Stufe wird Wartung wirklich vorausschauend. Dazu modelliert man mittels Software die Abnutzung von Verschleißteilen und wie sich dies auf die Sensordaten auswirkt. Aus diesem Modell ergibt sich ein Zusammenhang, im einfachsten Fall ein Schaubild mit einer Gerade. Beispiel Spindel einer Werkzeugmaschine: Steigt das Geräusch, das der Vibrationssensor misst, im Lauf der Zeit an, gibt es irgendwann einen Punkt, wo das auf einen zu hohen Verschleiß schließen lässt. Die Software empfiehlt dann einen Austausch, ganz unabhängig davon wie kurz oder wie lang das Teil in Betrieb war. Nach diesem Prinzip arbeitet zum Beispiel Neuron Soundware, eine Erkennungssoftware eines gleichnamigen Start-ups aus Tschechien, die am Maschinenklang drohende Defekte erkennt.

Statt sich gleich auf die fünfte Stufe zu stürzen, empfiehlt Jochen Schlick erstmal die Hausaufgaben in Stufe 1 zu machen. Wo ein Gabelstapler gegen eine Maschine fahren kann, wo Werkzeuge falsch eingemessen werden können, wo die Dokumentation zur Maschine nicht an der Maschine ist – „dort brauchen Sie kein Predictive Maintenance“. Wo der Zufall und der Schlendrian regiert, ist vorausschauende Wartung nutzlos, weil diese Vorkommnisse gar nicht erfasst werden. „Und man glaubt gar nicht, wie oft das der Fall ist“, so Schlick.

Dabei lässt sich die reaktive Wartung digital vereinfachen. Reparaturanleitungen über Augmented Reality, aktuelle Maschinen- und Teiledokumentationen über QR-Codes oder ein digitales Reparatur-Logbuch per iPad-App tragen zur erheblichen Verkürzung der Stillstandzeiten bei.

Für die Verfechter von Predictive Maintenance sind das wenig ermutigende Nachrichten. Das heißt aber nicht, dass vorausschauende Wartung gänzlich sinnlos ist. In der Studie von Staufen-Neonex äußern die Befragten große Erwartungen, dass das Thema in den nächsten Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen wird. 73 Prozent der Befragten erwarten dies in der Automobilbranche, im Maschinen- und Anlagenbau sind es 64 Prozent.

Diese Hoffnungen sind berechtigt, denn in etlichen Branchen gibt es sehr wohl Anwendungen, wo Predictive Maintenance Sinn macht. Das ist zum Beispiel in Anwendungen der Fall, wo hohe Stückzahlen gleicher Teile produziert werden, wo Ausfälle hohe Kosten verursachen und wo man bei Reparaturen schlecht an das defekte Teil herankommt, etwa in Spritzguss-Anlagen oder Montagebändern.

Vorreiter ist wie so oft die Automobilindustrie. Die großen Fahrzeughersteller und ihre großen Zulieferer nutzen eine Fülle von Sensordaten, um das letzte Quäntchen Stillstandzeiten zu vermeiden. Auch vergleichen diese Unternehmen ihre oft weltweit verteilten Standorte. Wird in einem Werk ein neuer Prozess eingeführt und kommt es dort zu Defekten, kann man daraus Schlüsse auch für andere Standorte ziehen.

Ebenfalls etabliert hat sich die vorausschauende Wartung in der Energiebranche. So sind moderne Gasturbinen mit hunderten Sensoren bestückt, die laufend Messdaten an eine Zentrale melden. Dort suchen Computerprogramme in den Datenbergen nach Abweichungen, die auf drohende Defekte hindeuten und zwar über alle weltweit installierten Maschinen. Gab es vor einiger Zeit in einer anderen Turbine schon mal ähnlich auffällige Messwerte und es kam kurz darauf zu einem Defekt, dann kann man dieses Mal rechtzeitig handeln und das betreffende Teil in allen Anlagen rechtzeitig austauschen. Auch Windkraftanlagen werden so komplett überwacht. Gas-, Dampf- und Windturbinen werden sowieso regelmäßig zu Wartungszwecken für einige Tage stillgelegt. Dabei tauschen die Hersteller gleich Teile aus, die vor dem nächsten Wartungsintervall den Geist aufgeben könnten.

Den entscheidenden Fortschritt über Condition Monitoring und Predictive Maintenance hinaus liefern Algorithmen. Die Entwickler setzen dabei große Hoffnungen in Deep Learning. Das sind riesige Computer-Experimente, bei denen man Unmengen von Daten in den Computer schüttet. Der simuliert ein neuronales Netz, aber mit viel mehr „Neuronen“ als bei früheren Versuchen. Das neuronale Netz lernt selbstständig aus den Daten und kann durch diese „Erfahrung“ Probleme lösen.

Was heute mit Deep Learning in der Industrie möglich ist, zeigt das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaiserlautern. Dort hat Michael Bortz ein mathematisches Modell plus Software entwickelt, mit der Verfahrenstechniker an einer Chemieanlage mit der Maus an Schiebereglern ziehen können und so den Prozess in der Anlage ändern. „Jede Einstellung ist wie ein Experiment, das man noch nie gemacht hat“, so Bortz. Was geht, was geht nicht – die Software sagt es auf Knopfdruck auf Basis der Erfahrungen, die sich das neuronale Netz mit echten Daten aus der Anlage angeeignet hat.

Die Ergebnisse sind verblüffend. Durch eine minimale Änderung des Prozesses, steigt die Ausbeute der Chemikalie – im Beispiel ein Grundstoff für die kosmetische Industrie – plötzlich um zehn Prozent, ohne dass die Reinheit leidet. Die Ergebnisse habe man den Experten des Chemiekonzerns gezeigt und die hätten es erst geglaubt, nachdem sie es ausprobiert hätten. Bortz: „Unsere Kunden dürfen sich was wünschen und es geht in Erfüllung – das ist fast wie Weihnachten.“

Die Königsdisziplin, die aber noch in den Kinderschuhen steckt, ist die Rückkopplung solcher Modelle in die Produktion. Statt mit der Maus einzugreifen, können solche Algorithmen künftig Anlagen selbst optimieren und die Ausbeute steigern oder aber die Lebensdauer verlängern. Der Computer sagt dann nicht mehr bloß Defekte voraus, er verändert die Prozesse in der Anlage so, dass bestimmte Teile geschont werden, etwa durch geringere Drehzahlen an der Maschine. „Wenn Maschinen in der Lage sind, die Bearbeitungsprozesse zu verstehen und selbst Verbesserungsvorschläge zu machen, ist das eine Revolution“ so Jochen Schlick. Hiermit entfalte sich ein viel größerer Hebel als durch die bloße Fokussierung auf die ohnehin schon sehr gute technische Verfügbarkeit, die oft das Ergebnis von jahrzehntelangem Engineering sei.

Anlagen mit Null-Defekte-Garantie wird es nie geben – obwohl die Betreiber sie gerne hätten. Sie sichern üblicherweise große und millionenteure Anlagen wie Wind- oder Gasturbinen durch Wartungsverträge ab. Die gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen und zu unterschiedlichen Kosten. Bei Kraftwerksturbinen ist ein Rundum-Sorglos-Vertrag sinnvoll, der den Betreiber von den Kosten für unvorhergesehene Reparaturen entlastet. Doch auch so ein Wartungsvertrag bietet keine hundertprozentige Garantie, dass nicht doch einmal etwas ausfällt, manche Kunden sichern sich sogar durch Androhung von Konventionalstrafen ab.

Die Experten von Staufen-Neonex registrieren in letzter Zeit eine wachsende Nachfrage nach Beratung zu Predictive Maintenance und Prozessoptimierungsverfahren von Maschinenherstellern, häufig auf Druck ihrer Kunden, insbesondere der großen Automobilhersteller. Die kommen zum Zulieferer mit der Forderung: „Macht vorausschauende Wartung, es darf aber nichts kosten.“

In dieser Zwickmühle müssen die Betriebe nachweisen, dass der Service sehr wohl etwas kosten darf, dass sich das aber für den Kunden schnell rechnet. Das ist schwierig, aber möglich. Dazu spielen die Berater Stillstandszenarien in der Kundenfabrik durch. Wenn ein Defekt auftritt: Wer ruft wen an, wie lange dauert das, ist das Ersatzteil am Lager und und und? Am Ende kommt ein Strich drunter und es ergeben sich die Kosten für den Stillstand.

Die Preisfindung des Predictive-Maintenance-Services ist dann einfach: Er muss unter diesen Kosten liegen und sich über eine möglichst kurze Zeit bezahlt machen. Erweitert man dann das Angebot etwa um eine garantierte schnelle Ersatzteillieferung, so ergibt sich ein attraktives Serviceangebot. Viele seiner Kunden hätten die Technik für die vorausschauende Wartung im Griff und suchten nun händeringend nach den passenden Geschäftsmodellen, so Jochen Schlick. Dafür müssten die Betriebe jedoch umdenken: „So eine Dienstleistung kann man nicht verkaufen wie Stahl. Die Chancen liegen in den passenden Dienstleistungsmodellen.“

(anwe)