Missing Link: Die Kybernetik schlägt zurück
Was haben eine Heizungsregelung, der kindliche Spracherwerb, die Preisentwickung für Kakaobohnen und ein Botnetz gemeinsam? Sie können Gegenstand kybernetischer Forschung sein.
Kybernetik ist eine disziplinübergreifende Forschungsrichtung, die ab 1950 zwei goldene Dekaden erleben durfte. Den Begriff umgibt mittlerweile eine museale Aura – zu Unrecht, vermutet der Medienwissenschaftler Jan Claas van Treeck. Deshalb initiierte er eine Tagung zur “Aktualisierung des kybernetischen Denkens” an der Humboldt-Universität zu Berlin. Geladen waren Forscherinnen und Forscher aus Disziplinen wie Informatik, Medienwissenschaft, Design, Pädagogik und Philosophie. Die leitende Frage der Tagung war, wie Kybernetik uns heute gegenwärtig ist und ob kybernetisches Denken für die aktuelle wissenschaftliche Praxis fruchtbar gemacht werden kann.
Der Regelkreis als zentrales Modell
Das zentrale theoretische Modell der Kybernetik ist der Regelkreis. In seiner einfachsten Form ist er etwa im Heizungsthermostaten realisiert: Eine Sollgröße (die gewünschte Temperatur) wird mit einer gemessenen Istgröße (der tatsächlichen Temperatur) abgeglichen. Abhängig von der Differenz zwischen Soll und Ist wird eine Stellgröße gesteuert, sprich: ein Heizungsventil geöffnet oder geschlossen. Als Störgröße bezeichnet man alles, was sonst noch Einfluss auf die gemessene Temperatur nehmen könnte, etwa andere Wärmequellen und den Wärmeaustausch mit einer veränderlichen Umgebung.
Nachlass des Instituts für Kybernetik (6 Bilder)
(Bild: Humbold-Universität zu Berlin (HU))
Regelkreise sind in der Technik allgegenwärtig: sie finden sich in der chemischen Verfahrenstechnik, in der automatischen Höhenregelung bei Flugzeugen oder der Drehzahlregelung einer Dampfmaschine. In den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts schlugen der deutsche Physiker Hermann Schmidt und der US-amerikanische Mathematiker Norbert Wiener vor, ausgerüstet mit dem Modell des Regelkreises auch Bereiche jenseits technischer Praxis unter die Lupe zu nehmen. Und in der Tat: Regelkreise lassen sich mannigfach identifizieren in Biologie, Wirtschaft, Politik und überhaupt überall dort, wo zielgerichtete Interaktion stattfindet – ob zwischen Maschinen, Einzellern, Ameisen oder Menschen.
Verwobenheiten: Wer regelt wen?
In real existierenden biologischen, sozialen oder technischen Systemen sind derart schlichte und isolierte Regelkreise wie der Heizungsregler allerdings die Ausnahme. Schon ein einzelner Regelkreis kann sehr viel komplexer aufgebaut sein, etwa mehrere Stell- und Messgrößen enthalten. Zudem haben wir es in realen Systemen mit verschiedenen, komplex miteinander verwobenen Regelkreisen zu tun, die auf unterschiedlichen Ebenen operieren. Man denke etwa an eine Automobilfabrik, die wiederum in einem ökonomischen Zusammenhang steht oder an eine biologische Zelle, die gemeinsam mit anderen Zellen einen Organismus bildet. Die Pioniere der Kybernetik sahen sich also mit einem reichen und anspruchsvollen Forschungsprogramm konfrontiert.
Der Wissenschaftshistoriker Boris Goesl sprach in seinem Beitrag über die durch Hermann Schmidt geprägten Wiegenjahre einer deutschsprachigen Kybernetik. Schmidt schlug für dieses Unterfangen den Begriff “Allgemeine Regelungskunde” vor. Norbert Wiener legte 1948 das Grundlagenwerk “Kybernetik – Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine” vor und lieferte damit den griffigeren Namen. Der Begriff ist abgeleitet vom altgriechischen “kybernētēs“, zu deutsch: Steuermann.
Der Bedarf nach Strukturwissenschaften
Der Philosoph Stefan Artmann stellte in seinem Tagungsbeitrag überzeugend Motivationen für die Entstehung der Kybernetik dar. Ein augenfälliges Problem war und ist die zunehmende Unüberschaubarkeit von Wissensbeständen und wissenschaftlichen Subdisziplinen. Diese Gemengelage schafft den Bedarf nach Theorien und Modellen, die “Brücken zwischen den Wissenschaften” schlagen und transdisziplinär verwendbare Vokabularien liefern können. Diese Bemühungen fasste Artmann unter dem Begriff "Strukturwissenschaften" zusammen. Neben der Kybernetik sind das etwa System-, Spiel- und Informationstheorie.
Artmann betonte, dass die Pfade der Kybernetik nicht nur vom Speziellen zum Allgemeinen, sondern auch in die entgegengesetzte Richtung verlaufen. Aus den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen extrahierte, allgemeine Modelle finden Anwendung etwa in einer kybernetischen Linguistik, Physiologie oder Soziologie. Es mag ironisch erscheinen, dass das “Gegenmittel” zur unübersichtlichen Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen selbst zahlreiche neue Subdisziplinen gebiert.