Missing Link: Die Kybernetik schlägt zurück

Seite 2: Formalisieren, was nicht bei drei auf den Bäumen ist

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Die Kybernetik vertritt ganz allgemein den Anspruch, mathematische Modelle und Methoden auch für Forschungsgegenstände verfügbar zu machen, die dafür auf den ersten Blick ungeeignet erscheinen und vormals eher qualitativ behandelt wurden. Fragen etwa nach Wahrnehmung und Bewusstsein, nach Erinnerung und Vergessen. Auch vor den schönen Künsten und philosophischen Fragen machte das kybernetische Denken nicht halt. Dieses überschießende Formalisierungbegehren war allerdings kein Alleinstellungsmerkmal und auch keine Erfindung der Kybernetik.

Bereits 1834 bemerkte der Physiologe Ernst Heinrich Weber, dass die subjektiv wahrgenommene Intensität einer Sinnesqualität (wie Helligkeit, Lautstärke oder Druck) zu der objektiv messbaren Intensität in einem logarithmischen Verhältnis steht. Ebenfalls mittels mathematischer Operationen und unter Einsatz sogenannter "Vergessenskurven" beschrieb der Psychologe Hermann Ebbinghaus um 1880 die Leistungen des menschlichen Erinnerungsvermögens.

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Fragen an den Tagungsleiter Jan Claas van Treeck

Sie regen an, kybernetisches Denken zu aktualisieren und auf aktuelle wissenschaftliche Fragestellungen und Probleme anzuwenden. Können Sie präzisieren, was Sie sich davon versprechen und welche Forschungsgegenstände Sie als dafür besonders geeignet erachten?

Jan Claas van Treeck: Kybernetik umgibt uns ganz praktisch überall, sie ist die Grundlage für alle unsere Computer und Smart Devices und die Software, die auf diesen Geräten läuft. Wenn wir also versuchen uns zu fragen, wie es etwa zum Facebook/Cambridge Analytica-Skandal kam, oder wie Amazon Recommender-Algorithmen unser Konsumverhalten steuern, dann bietet die Kybernetik als Theorie wichtige Ansatzpunkte für ein besseres Verständnis des "digitalen Jetzt".

Kybernetik ist für die Medienwissenschaftler der Humboldt Universität nicht erst seit der Übernahme des Nachlasses vom Institut für Kybernetik ein wichtiges Thema. Auch wenn in Ihrem Hause historisches Denken eine untergeordnete Rolle spielt, bitte ich Sie, Traditionslinien aufzuzeigen, an die Sie mit Ihrem Aktualisierungsbestreben anknüpfen.

Auch wenn Friedrich Kittler an der HU "nur" in der Kulturwissenschaft und nie in der Medienwissenschaft gelehrt hat, ist die Traditionslinie seines Denkens durchaus etwas, auf das wir uns kritisch berufen. Wenn man mit Kittler etwa sagt "Medien bestimmen unsere Lage", dann kann man daran anschließend fragen, wie denn diese Medien in ihrer Operationalität funktionieren – die Antwort darauf liefert dann die Kybernetik.

Können Sie entscheidende Anregungen benennen, die Sie aus der Tagung mitgenommen haben?

Die Tagung hat nochmal vor Augen geführt, wie wichtig es ist sich mit dem kybernetischen "Erbe" zu befassen, wie sich die Kybernetik Helmar Franks äußerte und vor allem: Wo sich "seine" Kybernetik sozusagen "ungefragt" fortsetzt, nämlich bei den aktuellen Lernprogrammen und Tutorialsystem, die wir alle kennen.

Der Mathematiker Andrei Andrejewitsch Markow untersuchte um 1910 Texte unabhängig vom Inhalt. Seine Analysen konzentrierten sich allein auf die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens eines bestimmten Buchstabens in Abhängigkeit von den jeweils vorherigen Buchstaben. Das daraus resultierenden, unter dem Namen Markov-Ketten bekannten Algorithmen sind aus der digitalisierten Welt kaum wegzudenken: sie leisten bei der Text- und Spracherkennung sowie der Auto-Vervollständigung auf Milliarden von Mobiltelefonen treue Dienste.

Solche schon damals historischen Ansätze griff die frühe kybernetische Forschung dankbar auf. Darüber hinaus lag Ende der Vierzigerjahre die Idee der Formalisierung offenbar in der Luft. Die Kybernetik ist untrennbar verwoben mit dem zeitgleichen Aufkommen der ersten Digitalrechner, den Arbeiten zur Berechenbarkeit von Alan Turing und der Informationstheorie von Claude Shannon.

Die Kybernetik richtet ihren Blick auf sogenannte zirkuläre Bedingtheiten. Hinter diesem etwas sperrigen Begriff verbirgt sich ein recht einfacher und nachvollziehbarer Gedanke: Wenn zwei (oder mehr) Größen aufeinander einwirken, sich also gegenseitig bedingen, dann lässt sich keine klare Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung mehr machen. Diese beiden bewährten und für die Erklärung von Zusammenhängen so wesentlichen Begriffe sind außer Kraft gesetzt.

Zirkuläre Bedingtheiten sind nicht Ausnahme, sondern Regel. Das machte der Designforscher und Kybernetiker Thomas Fischer auf der Tagung deutlich. Jeder Organismus etwa, der auf seine Umwelt einwirkt und wiederum Umweltwirkungen ausgesetzt ist, steht in einem zirkulären Bedingungsverhältnis. Kybernetiker werfen den klassischen Erkenntnistheorien eine Blindheit angesichts zirkulärer Bedingtheiten vor. Um es mit Fischer zu sagen: klassische Theorien schneiden Bögen aus den Zirkeln heraus und halten diese Bögen dann für das Ganze.

Die Kybernetik versucht letztlich, eine moderne, formalisierte Beschreibung des guten alten Henne-Ei-Problems zu liefern – schwierig genug, doch es kommt noch vertrackter.

Der Soziologe Niklas Luhmann schrieb, man könne Theorien mit universalem Anspruch daran erkennen, dass sie selbst in ihrem Gegenstandsbereich vorkommen und somit unweigerlich Paradoxien und Zirkelschlüsse enthalten müssen. Auch eine konsequent gedachte Kybernetik kommt nicht umhin, die eigenen Bedingtheiten, Beobachtungen, Ziele und Wirkungen kybernetisch zu beobachten.

Die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung will der Tatsache Rechnung tragen, dass isolierte Regelkreise kaum existieren, und dass jede Beobachtung als kybernetischer, zirkulär bedingter Prozess beobachtet werden muss. Als einer der Begründer der Kybernetik zweiter Ordnung gilt Heinz von Foerster. Er ist zugleich Pionier einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie, die keine Angst vor Paradoxien hat und die Annahme eines objektiven Beobachterstandpunktes und damit einer objektiv feststellbaren Wahrheit verwirft.