Bock auf Schock

Adrenalin ist der Stoff, aus dem die Aufregung besteht. Er lehrt uns einiges über effiziente und flexible Informationsverarbeitung.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Für den Frühmenschen war es überlebenswichtig, blitzschnell auf Unerwartetes reagieren zu können. Im Körper läuft bei Stressspitzen eine Ereigniskaskade ab, die umgehend große Kräfte zur Beantwortung von Gefahren freisetzt. Der Hypothalamus, die Steuerzentrale im Gehirn, aktiviert den Sympathikus-Nerv. Die Nebennieren schießen Adrenalin ins Blut, eine bis zu 300fach höhere Dosis als sonst. Puls, Blutdruck und Atemfrequenz steigen, um den Sauerstoff- und Nährstofftransport zu Muskel, Herz und Gehirn zu pushen; dafür wird die Durchblutung der inneren Organe und der Haut gedrosselt. Die Muskeln gehen in erhöhte Bereitschaftsspannung – "fight or flight". Kampf oder Flucht.

Unter modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen wenden sich solche Adrenalin-aktivierten Kräfte nun gegen uns selbst. Versagensängste wie Lampenfieber gehören zu den Folgen eines aufgepeitschten autonomen Nervensystems. Einer Untersuchung zufolge haben viele Menschen größere Angst davor, öffentlich zu sprechen, als vor dem Tod. "Das Gehirn ist eine großartige Sache", schreibt Mark Twain, "es funktioniert vom Augenblick der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, wo du aufstehst, um eine Rede zu halten." Aber der Stress-Stoff ist notwendig und kann sehr positive Auswirkungen haben. Er verleiht Elan und erzeugt Spannung. Adrenalin ist das Aufputschmittel der Natur. Ohne Stress gäbe es keine Leistungsbereitschaft.

Mit Smartphone und Notebook hat der Zivilisationsmensch sein Stressarsenal wieder mächtig erweitert. Allerdings verhilft uns das Adrenalin zugleich zu einer überaus effizienten Informationsverarbeitung. Die Alarmanlage im Stammhirn macht das Bewusstsein messerscharf, senkt die Empfänglichkeit für Nebensächliches. Ein solches System muss "Denkwürdiges" aus der täglichen Informationslawine heraussortieren können. Neurologen vermuten, dass diese Filterleistungen im Mandelkern vor sich gehen, einer zerklüftete Struktur unterhalb des Schläfenlappens. Während eines Adrenalinschubs treten Denkblockaden für komplexere Vorgänge ein – das Gehirn tendiert zu klaren, einfachen Lösungen. Im übrigen wirkt Adrenalin gedächtnisstärkend. Je aufregender und gefühlsbetonter eine Situation ist, desto eher behalten wir sie. Das Gehirn kann dadurch besser emotional wichtige Informationen festhalten.

Erfolgreich bewältigte Herausforderungen führen zur Festigung bestehender Verbindungen im Kopf. Auf diese Weise passt das Gehirn seine Organisation immer besser an die Anforderungen der Umwelt an. Positiver Stress produziert somit eingefahrene Gewohnheiten Aber durch einen trickreichen Mechanismus hat die Natur dafür gesorgt, dass auch neue Denkmuster eine Chance haben.

"Lang anhaltender Stress, der sich nicht mit den bisherigen Erfahrungen eines Menschen unter Kontrolle bringen lässt, löst langsam die Verschaltungen zwischen den Gehirnzellen", erklärt Professor Gerald Hüther von der Universitätsklinik Göttingen. Das Zentralnervensystem öffnet sich für neue Lösungen. Es dauert allerdings oft Wochen oder Monate, ehe alte gebahnte Hirnverbindungen gelöst werden.

Der moderne Mensch ist satt und unglücklich. Er sucht die Gewissheit, zu leben. Großes Gefühl. Aufrauschende Aufregung. Während andere lieber die Treppen benutzen, wollen einige von uns unbedingt an Gummiseilen von Gebäuden springen. Ein ganze Fächer moderner Mutproben hat sich zu diesem Zweck geöffnet. Fun-Sportler lieben den Begriff Adrenalin und benennen ihre Firmen und Fanclubs danach.

Beim Bungee Jumping, Rafting oder auf Extrem-Achterbahnen holt sich der Zeitgenosse das scharfe, dichte Gefühl, am Leben zu sein. Glutwärme durchfährt uns. Die kühlen Strahlungen des Intellekts verschwinden unter der Hitze aufschießender Gefühle. Die Blässe des Lebens, inmitten einer Flut elektronischer Bilder, nimmt satte Farben an. In den Bergen des Bewusstseins schmilzt Schnee, ein Fluß wird ein Strom. Begeisterung rauscht auf. Adrenalin!

(bsc)