Das Alte Testament der Transhumanisten

Klassiker neu gelesen: Nordert Wieners „Cybernetics“ ist 70 Jahre alt - aber mit seinen interdisziplinären Ansätzen immer noch vielseitig und aktuell.

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Norbert Wieners „Cybernetics“ ist wahrlich keine leichte Lektüre. Denn das 1948 erstmals erschienene Buch fasst den damaligen Stand einer Wissenschaft zusammen, die gerade im Entstehen begriffen war: der Kybernetik. Doch die Mühe lohnt sich – zumindest streckenweise.

Das Buch beginnt zwar mit einer für Nicht-Mathematiker sehr schwer verdaulichen Einführung in die Analyse von Zeitreihen und die mathematische Beschreibung von Systemen mit Rückkopplungsschleifen. Danach aber greift Wiener eine Menge Themen auf, die heute noch die Diskussion im Silicon Valley prägen: Maschinenethik etwa, die Lernfähigkeit künstlicher Nervensysteme oder Funktionsmechanismen der menschlichen Kognition. Die zweite Auflage von 1961 enthält zwei zusätzliche Abschnitte zu Hirnwellen und sich selbst reproduzierenden Maschinen.

Weil die Kybernetiker bei all ihren Theorien grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Mensch, Tier und Maschine machen, liest sich „Cybernetics“ daher streckenweise wie eine Art Altes Testament der transhumanistischen Bewegung. Wiener ist zwar Mathematiker – was man dem Text immer wieder anmerkt –, aber dabei erstaunlich breit gebildet.

Er ist eine Art moderner Universalgelehrter mit Interesse an offenbar fast allem: Quanten-mechanik, Biologie, Medizin, Psychologie, Physik – und auch Politik. Und er wirft zwar ohne jegliche Hemmungen mit seiner Bildung nur so um sich, offenbart dabei aber auch ein fantastisches Gespür für interdisziplinäre Zusammenhänge.

Das Kapitel über „Kommunikation und Gesellschaft“ beispielsweise beginnt mit einer polemischen Abrechnung mit dem – seiner Auffassung nach falschen – Glauben, dass der freie Markt schon alles regeln werde. Da Kommunikation ein entscheidendes Element des gesellschaftlichen Zusammenhalts darstelle, sei es äußerst gefährlich, die Instrumente der Massenkommunikation nur dem menschlichen Gewinnstreben zu überlassen.

Gleichzeitig warnte Wiener auch vor dem Irrglauben, man müsse die Methoden der Natur- und Ingenieurswissenschaften nur auf die Gesellschaft anwenden, um deren Probleme zu lösen. Das war 1948 – und damit 70 Jahre vor dem Streit um die Macht des Silicon Valley und dessen Weltverbesserungsanspruch.

Norbert Wiener: Cybernetics - Or Control and Communication in the Animal and the Machine, 212 Seiten, MIT University Press

(anwe)