Augmented Reality: Löwen im Büro

Die Vermischung von echter und virtueller Realität spielt sich für Nutzer bislang vor allem auf Smartphones ab. Eine neue App ermöglicht gemeinsame Aktivitäten in der Augmented Reality – und birgt Missbrauchspotenzial.

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Von
  • Rachel Metz
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In einer Ecke im 20. Stock eines Büro-Turms in der Innenstadt von San Francisco könnte es Ihnen passieren, dass Sie auf eine digitale Katze und Maus stoßen.

Denn mit Hilfe einer Smartphone-App habe ich die beiden Tiere dort postiert. In das Büro eines Start-ups, das im Bereich Augmented Reality arbeitet: Ubiquity6. Seine App ist noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium, soll aber in diesem Sommer für Android und iOS herauskommen.

Mit ihr können Nutzer die reale Welt um virtuelle Objekte ergänzen, die dann auch andere Menschen über ihre eigenen Smartphone-Displays sehen können. Wenn man die Objekte an einem Ort zurücklässt, wie ich es mit der weißen Katze und der grauen Maus getan habe (neben der über einem Sofa schwebenden Nachricht „Rachel was here“), bleiben sie dort, auch wenn man selbst längst wieder weg ist.

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Ubiquity6-Gründer und -CEO Anjney Midha erklärt das Grundprinzip: Man kann virtuelle Objekte an physischen Orten platzieren, damit Freunde sie später finden und mit ihnen interagieren können.

Sie wollen virtuelle Basketball-Bälle in einen virtuellen Korb werfen? Oder digitale Kuchenstücke verteilen, die von hungrigen Löwen aufgefressen werden? Ein Foto von sich selbst an der Wand zurücklassen, damit jemand es findet? Mit der App ist all das möglich. Hinterher können Sie das Telefon weglegen und wissen, dass Korb, Löwe und Foto noch da sein werden, wenn Sie es wieder hervorholen. Das ist eigenartig, cool und hat gute Chancen, die sehr nahe Zukunft von Augmented Reality zu werden.

Die Idee, digitale Inhalte und Wirklichkeit zu vermischen, gibt es schon lange; dank Pokémon Go ist Augmented Reality auf Smartphones in den letzten Jahren fast schon zum Mainstream geworden. Apple und Google dränger Entwickler aktiv dazu, AR-Apps zu produzieren. Headsets wie HoloLens von Microsoft und das noch nicht verfügbare Magic Leap One dagegen sind bislang nur an Entwickler gerichtet. Damit sind Smartphones bis auf weiteres für die meisten Nutzer die einzige Möglichkeit, gemischte Realitäten zu erleben.

Genau darauf setzt Midha. Er war Gründungspartner beim mittlerweile aufgelösten Fonds für Seed-Investitionen der Wagniskapitalfirma Kleiner Perkins Caufield & Byers und spielte eine Rolle bei der Investition der Gesellschaft in Magic Leap. Für Ubiquity6 hat er vor kurzem 10,5 Millionen Dollar Kapital in einer von Index Ventures angeführten Finanzierungsrunde bekommen, an der sich auch sein früherer Arbeitgeber beteiligt hat.

Die App von Ubiquity6 ist noch in einem frühen Stadium – sie funktioniert nicht besonders gut, und ich konnte sie nicht auf mein eigenes Telefon laden. Aber schon jetzt ist sie viel geselliger und interaktiver als andere AR-Apps für Smartphones, die ich ausprobiert habe.

In der Lobby seines Büros werfen Midha und ich virtuelle Bälle und tippen auf unsere Displays, um Löwen virtuelle Kuchenstücke zu geben. Als eines der Tiere, nachdem es seinen Snack aufgegessen hat, auf mich zukommt, weiche ich unbewusst zurück. Midha lacht über mich, ich auch. Ich habe mich kurz täuschen lassen.

Die Benutzung der App ist einfach. Ausgesprochen schwierig aber ist es, virtuelle Objekte zu erzeugen, die in der realen Welt erhalten bleiben und von mehreren Personen gleichzeitig aus unterschiedlichen Winkeln betrachtet werden können. Denn das Gerät – in diesem Fall das Telefon – jedes Benutzers braucht Informationen über die reale Umgebung, in der er sich befindet, und darüber, wo die digitalen Objekte angesiedelt sein sollen. Zusätzlich muss all das in Echtzeit auf den Telefonen aller Personen funktionieren, die am selben Ort die digitalen Objekte sehen wollen. Nur so sind Aktivitäten wie gemeinsames Basketball-Spielen möglich.

Ubiquity6 nutzt dazu die Sensoren der Smartphones. Mit ihrer Hilfe wird rasch eine Karte der physischen Umgebung erstellt (einschließlich Wänden und Oberflächen von Objekten wie Möbeln) und der Nutzer darin positioniert. Anschließend kann er den Raum verändern, indem er Objekte hinzufügt. In der Version der App, die ich ausprobiert habe, konnte ich zum Beispiel nach „Orange“ suchen und dann mehrere 3D-Varianten der Frucht von der kostenlosen Google-Website Poly herunterladen.

Midha hat große Visionen von der Nutzung seiner App an öffentlichen Orten – zum Beispiel für virtuelle Gärten in ganzen Städten, die von mehreren Personen gepflegt werden. Einer kann die Samen einpflanzen, der Nächste sie bewässern und ein Dritter digitale Früchte ernten.

Solche gemeinsamen Aktivitäten versprechen Spaß. Doch Midha muss gleichzeitig beachten, welche Folgen es hat, wenn Menschen auf gewisse Weise die Welt editieren können. Wie zum Beispiel lässt sich verhindern, dass jemand einen virtuellen Penis-Wald vor Ihrem Haus hinterlässt? Oder was ist, wenn der nächste Nutzer Ihre sorgfältig erstellten digitalen Kreationen verunstalten möchte? Diese Frage ist nicht einmal mehr rein hypothetisch: Bei Snapchat wurde im vergangenen Herbst eine von dem Künstler Jeff Koons produzierte AR-Installation mit einem seiner Ballon-Hunde mit Graffiti versehen.

Midha will noch keine genaue Antwort darauf geben; Ubiquity6 werde eine Lösung für Probleme wie digitale Graffiti finden, sagt er nur.

Franzi Roesner, Assistant Professor an der University of Washington, hat viel Zeit damit verbracht, über Fragen von Datenschutz und Sicherheit in einer Welt nachzudenken, in der mehrere Menschen Realitäten vermischen. In einer aktuellen Studie, so berichtet sie, habe es nicht lange gedauert, bis die Träger von HoloLens-Headsets damit anfingen, sich gegenseitig zu ärgern, indem sie zum Beispiel virtuelle Objekte vor den Gesichtern der anderen platzierten. Die so genannte „time to penis“ werde bei Ubiquity6 kurz sein, sagt sie aufgrund ihrer Erfahrungen voraus.

Zwar fürchtet Roesner die Trolling-Möglichkeiten der App von Ubiquity6, sie räumt aber ein, dass die Technologie selbst deutlich fortgeschrittener wirkt als andere AR-Apps für Telefone, die sie ausprobiert hat. „Das ist wirklich cool zu sehen“, sagt sie dazu.

(sma)