Livestream aus dem All

Hunderte Mini-Satelliten sind in den vergangenen Jahren ins All gestartet. Ihre Bilder können helfen, Waldbrände und Fluten zu bekämpfen. Aber auch das Militär ist interessiert.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Alexander Stirn

104 auf einen Streich. Genau 104 Satelliten, die meisten nicht größer als ein Schuhkarton, hat eine einzige indische Rakete vom Typ PSLV im Februar vergangenen Jahres in einer niedrigen Erdumlaufbahn ausgesetzt. Weltrekord – und ein sicheres Zeichen, dass das Satellitengeschäft im Umbruch ist.

Jahrzehntelang war die Branche ein reichlich exklusiver Club. Nur wenige Unternehmen konnten es sich leisten, riesige und entsprechend teure Erdtrabanten ins All zu schicken. Die Satelliten, im Schnitt mehr als zwei Tonnen schwer und mitunter so groß wie ein Reisebus, funktionierten zwar annähernd perfekt, ihr Bau und ihr Start waren allerdings so aufwendig, dass nur wenige Späher die Erde ins Visier nehmen konnten. Die Abdeckung aus dem All ließ folglich zu wünschen übrig.

Das ändert sich gerade grundlegend. Kleine Trabanten, wie die sogenannten Cubesats, machen sich im Orbit breit. Klein- und Kleinstsatelliten können zwar in der Regel sehr viel weniger, sie sind dafür aber nur wenige Kilogramm schwer, haben in ihrer einfachsten Form nur eine Kantenlänge von jeweils zehn Zentimetern und können dadurch – wie beim Start der indischen PSLV-Rakete – in rauen Mengen ins All bugsiert werden. Eine zweite Entwicklung ist aber mindestens ebenso wichtig: Neue technische Lösungen automatisieren die Auswertung der Satellitenaufnahmen zunehmend. Künstliche Intelligenz ersetzt den menschlichen Blick, denn von Hand analysieren lassen sich die Unmengen von Daten längst nicht mehr.

Insbesondere in der Erdbeobachtung eröffnet das völlig neue Möglichkeiten. Große Satellitenflotten, geschickt um den Globus verteilt, können Waldbrände und Überschwemmungen beinahe in Echtzeit entdecken – genauso wie die Folgen des Klimawandels. Sie helfen Ökonomen, weltweite Warenströme zu verfolgen. Sie wecken allerdings auch Begehrlichkeiten bei Militärs und Nachrichtendiensten.

„Wir können tägliche Veränderungen auf der Erde nur dann beobachten, wenn wir auch täglich frische Bilder haben“, sagt Marcus Apel, Strategiechef für Europa beim kalifornischen Start-up Planet. Dem Unternehmen aus dem Silicon Valley, dessen Europazentrale am Berliner Kranzlereck liegt, gehörten allein 88 der 104 Satelliten, die im vergangenen Jahr vom indischen Satish-Dhawan-Raumfahrtzentrum ins All gebracht wurden. Doves – auf Deutsch: Tauben – nennt Planet die gut vier Kilogramm schweren Mini-Satelliten mit den Abmessungen von drei Cubesats.

Ihre Bahnen ziehen die Späher in einem etwa 500 Kilometer hohen, sogenannten sonnensynchronen Orbit. Dieser führt beinahe über die Pole und ist so ausgerichtet, dass er mit der Rotation der Erde übereinstimmt. Dadurch überfliegen sie jeden Punkt der Erdoberfläche Tag für Tag zur selben Uhrzeit. Eine starr nach unten gerichtete Kamera nimmt dabei kontinuierlich Bilder auf. Wenig später folgt im gleichen Orbit, wie an einer Perlenkette, die nächste Taube. Da sich die Erdkugel derweil weitergedreht hat, fotografiert sie die direkt daneben liegenden Örtlichkeiten. Linie für Linie entsteht so ein Bild der kompletten Landmasse des Planeten. Und das Tag für Tag, mit einer Auflösung von drei bis fünf Metern. Die Kameras können neben dem sichtbaren Licht auch Infrarotstrahlung aufnehmen. Wer höher aufgelöste Bilder benötigt, kann auf 13 sogenannte Skysats zurückgreifen, hochgenaue Satelliten mit 70 Zentimetern Auflösung. Im April 2017 hat Planet sie von einer Google-Tochter übernommen.

Geschrumpfte Schaltkreise, hochauflösende Mini-Kameras, leistungsfähige Batterien und Solarzellen haben das möglich gemacht. Aber auch eine komplett neue Denkweise. „Agile Aerospace“, nennt Apel das Prinzip – agile Luft- und Raumfahrt, analog zur agilen Software-Entwicklung. Statt wie bislang alle Systeme mehrfach redundant auszulegen, statt jede Schraube monatelang für den Einsatz im All zu qualifizieren und dadurch viel Zeit und noch mehr Geld zu verpulvern, zeigen die neuen Raumfahrtunternehmen Mut zur Lücke – und zum Scheitern: Startunfälle sind in diesem Zeitalter nicht mehr als ein Schluckauf. Früher bedeuteten sie eine Katastrophe, schließlich waren Milliardeninvestitionen Schrott, und ein Nachbau dauerte mehrere Jahre. Als aber im Oktober 2014 eine amerikanische Antares-Rakete explodierte und Planet 26 Satelliten auf einen Streich verlor, hat das Unglück den Ausbau der Satellitenflotte nur um wenige Monate verzögert.

(wst)