Entscheidend ist das Interesse

Früher begann der Innovationsprozess mit dem Produkt. Inzwischen hat ihn der Kunde als Mittelpunkt der Welt abgelöst – mit bemerkenswerten Folgen. Ein kleiner Ausflug in die industrielle Zukunft.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Wir schreiben das Jahr 2030. Das Konsumentenparlament, ursprünglich eine eher symbolische Einrichtung, die ein Mitbestimmungsrecht der Kunden am Produkt andeuten sollte, ist zu einer realen politischen Macht aufgestiegen. Gerade breitet sich die neue, radikale Strömung des "Verbraucherlosen Verbrauchs" aus – Konsumenten, die sich Geräte wünschen, die ihnen das Konsumieren abnehmen sollen. Beziehungsweise, die eine Vervielfachung der bisherigen Konsumleistung und damit ein explosionsartiges Wirtschaftswachstum herbeiführen sollen.

Der Hype hatte mit dem sensationellen Erfolg der "Weihnachtsmaschine" eingesetzt, der Weiterentwicklung eines 3D-Druckers, die nicht nur in der Lage war, zahllose weihnachtsgängige Produkte herzustellen, sondern auch, sie originell zu präsentieren, zu bejubeln, zu verbrauchen und die Highlights des ganzen Prozesses am Ende als Video zusammenzufassen.

Längst hat sich überall in der Industrie der Ausgangspunkt von der Produktentwicklung auf die Kundenbedürfnisse verlagert, deren immer detailtiefere Auslotung erst zu nachhaltig erfolgreichen Innovationen führt. Anfang des 21. Jahrhunderts war die Entwicklung neuer Produkte in eine Art Diversifikationswahnsinn ausgeartet. Waren Parfums erst nur in Damen- und Herrendüfte aufgeteilt, gab es nun Gerüche für alles – Kissenparfums, Unterwäscheparfums, Handschuhparfums; dazu Spezialisten, die einen bei der Kollision verschiedener Düfte berieten. Die Kunden waren eher überfordert als begeistert.

Eine Variante dieser Fehlentwicklung war die sogenannte Ingenieurserfindung. Ein Ingenieur kann damit andere Ingenieure ins Schwärmen bringen, Otto Normalnutzer aber lässt sie kalt. Klassisches Beispiel: Google Glass. Im Alltag fühlten sich viele Menschen durch die Kamera in der Brille, der man nicht ansehen konnte, ob sie lief oder nicht, unbehaglich observiert. Mangelnde Kundenorientierung wurde zu einem Generalthema. Die Mitarbeiter von Unternehmen, zuvor in Labors und Hauptquartieren kaserniert, schwärmten aus. Waren sie zuvor ihren eigenen Träumen vom idealen Kunden nachgehangen, so schlugen sie nun ihre Zelte beim realen Kunden auf und sondierten noch das leiseste Wunschsignal.

Die Er-Kundung des Kunden begann – ein großes Abenteuer. So wie früher immer Visionen gefragt waren, waren es nun Kundenbedürfnisse. Umfragen, die belegen sollten, wie kundenfreundlich eine Innovation sein würde, wurden wegen des hohen Selbstüberlistungsrisikos abgeschafft. Der Kunde, umschwärmt, professionell beachtet und angeflutet von immer neuen Verständnisversuchen, sonnte sich in seiner neuen Rolle. Der vormals mit Massenproduktion abgefertigte Konsument wurde zum Mitproduzenten, von einfachen Farb- und Formvarianten in den Anfangsjahren bis zu den echtzeitwandlungsfähigen Produkten der Gegenwart, etwa den Autos mit Display-Lackierung, die nicht nur eine augenblickliche Farbänderung der Karosserie ermöglicht, sondern die Fahrzeugoberfläche in einen Bildschirm verwandelt.

Industriekunden dagegen müssen, wie sich herausgestellt hat, zum einen stets die Gefahren des sogenannten Genie-Syndroms im Auge behalten, das durch kritiklose Absorption jeder produktverdächtigen Lebensäußerung des geschmeichelten Kunden hervorgerufen werden kann. Zum anderen ist moderne Führungsqualität wichtiger denn je. Wer ernsthafte Innovationen hervorbringen will, muß sich notfalls auch gegen Fokusgruppen, Lead User und Prototypen stellen können und das Gegenteil dessen tun, was Verbraucher zu wollen glauben.

Die disruptivsten Unternehmen hören nicht auf ihre Kunden. Was mit außergewöhnlichen Erfolgsgeschichten wie Apple oder Facebook begann – einem Computer, der sich mit einem Knopf bedienen läßt und einem Web-Interface, mit dem das komplexe Internet ganz einfach wird – setzt sich in die Zukunft fort. "Was will der Kunde, und zwar ganz genau"war gestern. Heute ist morgen – was wird er wollen? Ein möglichst präzises Gefühl für diese Voraussicht zu entwickeln, heißt nun das Ziel.

(bsc)