Die Empathie-Maschine

Ein Kriegsfotograf will mit virtueller Realität Verständnis zwischen Feinden wecken. Aber er schafft noch mehr: einen neuen Weg, Mitgefühl zu erzeugen.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Wade Roush
Inhaltsverzeichnis

Oberlichter zeichnen ein Schachbrettmuster auf den Boden. Große Fotos an den Wänden zeigen Landschaften, die vom Krieg verwüstet wurden, und Männer, die in diesen Kriegen gekämpft haben. Ich höre Schritte hinter mir und drehe mich um. Zwei Gestalten gehen durch die Galerie und stellen sich vor den Porträts auf. Es sind ihre Porträts.

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Der Kleinere der beiden heißt Jean de Dieu. Er wurde, wie eine Stimme aus dem Off berichtet, als Kindersoldat in die ruandische Hutu-Rebellengruppe FDLR gezwungen – für einen Krieg gegen die Tutsi. Der andere namens Patient war Sergeant in der kongolesischen Armee, die mit den Tutsi verbündet war.

Beide sind virtuelle Charaktere, aber weitaus lebensechter als alles, was ich je in Spielen oder Filmen gesehen habe. Sie sind Teil der VR-Installation "The Enemy" des belgisch-tunesischen Fotojournalisten Karim Ben Khelifa, die bis Ende 2017 im Museum des Massachusetts Institute of Technology zu sehen war.

Als ich mich Jean de Dieu nähere, fragt ihn der Erzähler: Wer ist dein Feind? Was ist Gewalt für dich? Was macht deinen Feind unmenschlich? Jean, der traurig und müde wirkt, berichtet stockend, wie er mit elf Jahren in ein Flüchtlingslager verschleppt wurde und mitansehen musste, wie kongolesische Milizen seine Eltern töteten. Ihre Hirnmasse spritzte auf ihn. Natürlich hasse er die Tutsi und alle ihre Verbündeten, sagt er.

Dann kommt Patient zu Wort: Er verfolge die FDLR, weil sie kongolesische Bürger beraube, vergewaltige und ermorde. Die Rebellen hätten "keine menschlichen Werte und können sich nicht ändern. Sie wollen als Teil der Rebellion im Wald bleiben. Nur wilde Tiere leben im Wald."

Aber die beiden erzählen noch etwas anderes: Sie wollen einfach nur in Frieden mit ihren Nachbarn und Familien leben. In den anderen Räumen höre ich noch vier weitere Storys: von Amilcar und Jorge, Mitglieder rivalisierender Banden in San Salvador, von einem Reservisten in Israel und von einem palästinensischen Kämpfer in Gaza. Sie alle haben unterschiedliche Geschichten und Traumata – aber die gleichen Träume. Abu Khaled aus Gaza sagt etwa, dass 23 Familienmitglieder unter israelischer Besatzung gestorben seien, aber er hoffe immer noch auf "Frieden und Brüderlichkeit" in der Region.

Schon die schiere Größe der Installation ist bahnbrechend: Das MIT-Museum machte eine Fläche von knapp 300 Quadratmetern frei, damit bis zu 15 Besucher gleichzeitig mit Oculus-Brillen frei in der virtuellen Welt umherstreifen konnten. Auch der Realismus setzt neue Maßstäbe: Man sieht nicht nur sämtliche Bartstoppeln und Tätowierungen der Kämpfer – dank Eye-Tracking-Sensoren blicken sie einem auch stets in die Augen. Die Technologie funktioniert gut genug, um im Hintergrund zu verschwinden, sodass Besucher einen direkten Draht zu Jean, Patient und Abu aufbauen können.

Das ist genau das, was Ben Khelifa wollte: "Was passiert, wenn zwei Menschen einander in die Augen sehen? Es entsteht eine Verbindung, ob wir es wollen oder nicht."

Momentan ist die VR-Ausstellung nur Museumsbesuchern zugänglich, aber Ben Khelifa will sie auch jungen Menschen in Kriegsgebieten zeigen. Sie soll ihnen helfen zu erkennen, dass jeder Konflikt in gewisser Weise auf Vorurteilen und Missverständnissen beruht.

Herkömmliche Kriegsfotos, glaubt Ben Khelifa, schaffen dies immer seltener. Sie verlören ihre Wirkung. Zum Beispiel das berühmte Bild des dreijährigen Flüchtlingsjungen, dessen Leiche 2015 in der Türkei an Land gespült wurde. "Alle Eltern auf der Welt sollten darauf reagieren und sagen: ,Das könnte mein Kind sein'", sagt er. Trotzdem habe das Foto die Nationen nicht dazu bewegt, in Syrien einzugreifen.

Virtuelle Kämpfer, die in ihren eigenen Worten sprechen, können die Folgen des Krieges intensiver vermitteln, glaubt der Fotojournalist. Also suchte er Soldaten, die bereit waren, sich filmen zu lassen. Seine Erfahrung als Kriegsfotograf im Irak, in Libyen, Syrien, Israel, Jemen, Somalia und vielen anderen Krisengebieten habe ihm dabei geholfen, die Menschen zu öffnen. "Sie wissen, dass auch ich eine Menge Kämpfe durchgestanden habe – ohne Waffe, aber mit meiner Kamera", sagt Ben Khelifa. "Wir wissen alle, was Krieg ist."

Während er mit ihnen sprach, scannte Ben Khelifa sie mit einer Microsoft Kinect und fotografierte sie aus verschiedenen Winkeln. 2015 zeigte er auf einem Filmfestival in New York erste Ergebnisse. Die virtuellen Figuren konnten aber noch nicht laufen, ihre Köpfe drehen oder in anderer Weise auf Nutzer reagieren. "Damals habe ich gemerkt: Je besser ein Kämpfer deine Präsenz erkennt, desto mehr spürst du seine Präsenz. Du fragst nicht mehr, ob er echt oder unecht ist, sondern hörst einfach zu."

Bei der Umsetzung half ihm Fox Harrell, Professor für digitale Medien und künstliche Intelligenz am MIT. Ihn fasziniert Akira Kurosawas Film "Rashomon" von 1950, der eine brutale Vergewaltigung und einen Mord aus verschiedenen Perspektiven erzählt. "Ich habe mich dafür interessiert, wie man Algorithmen der KI nutzen kann, um solche Effekte auszulösen", sagt Harrell. Für "The Enemy" entwickelte er ein System, das über die Oculus-Brillen mitverfolgt, wie Besucher reagieren. Dies bestimmt, in welcher Reihenfolge sie die drei Konflikte erleben, welche Botschaft sie in der letzten Galerie erhalten und sogar, welchen Himmel sie durch die Oberlichter sehen.

Die ergreifenden Geschichten von Amilcar und Jorge aus San Salvador verleihen der Ausstellung eine Kraft, die ein Fotoessay nicht haben würde, meint John Durant, Direktor des MIT-Museums. "Die wenigsten Besucher dürften Erfahrungen mit Straßengangs haben, wo eine Art Stammeszugehörigkeit das Wichtigste ist", sagt er. "Es bedarf also einiger Anstrengung, sich in so eine Welt hineinzuversetzen. ,The Enemy' hat es mir viel leichter gemacht."

Besucher berichten Ähnliches. "Ich komme aus Kolumbien... Ich habe in der Nähe des Krieges gelebt", hat jemand ins Gästebuch geschrieben. "Vergebung wird immer der schwierigste Teil sein. Dazu braucht es Mitgefühl, und das hat mir ,The Enemy' gebracht. Danke schön."

Virtuelle Realität hat in der Tat begonnen, mit Fotojournalismus und TV-Nachrichten zu konkurrieren. Die Friedensaktivisten des Nexus Funds haben etwa in einem für den Emmy nominierten VR-Film gezeigt, wie Insassen eines Rohingya- Gefangenenlagers in Myanmar dahinsiechen. "Ich kann nicht alle Menschen in ein Flugzeug setzen und dorthin bringen", sagt Executive Director Sally Smith. "Aber ich weiß: Wenn sie es persönlich sehen könnten, gibt es nichts, was sie nicht tun würden, um zu helfen."

Aber wenn VR eine Empathie-Maschine ist, kann diese Empathie dann nicht auch missbraucht werden? Schließlich zielt sie direkt auf unsere Herzen. Extremisten könnten mit VR-Filmen beispielsweise den Hass gegen die Rohingya weiter anstacheln. "Macht mir das Angst? Ja", sagt Ben Khelifa. "Wer Empathie erzeugen kann, kann Menschen auch einer Gehirnwäsche unterziehen."

"The Enemy" ist hingegen übertrieben unparteiisch. Wenn das Projekt eine Schwäche hat, dann ist es diese Weigerung, die Taten der Kämpfer individuell zu werten. Aber dies ist gleichzeitig auch eine Stärke: Sie erlaubt es Besuchern, selbst Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszufinden. "Das kann ein Ansporn sein, über die eigenen Vorurteile hinauszudenken", sagt Harrell.

Ohne Fairness könnte VR leicht zum Propagandainstrument werden. Aber das gilt für jede Art des Journalismus. Wir haben Glück, dass jemand mit der Vision und dem Gewissen von Ben Khelifa den Weg weist.

(bsc)