Missing Link: Ein Plädoyer wider den KI-Populismus

In der Anfangszeit platzten die Wissenschaftler vor Optimismus: Die Schaffung denkender Maschinen schien nur wenige Jahre entfernt. Dann wurde es etwas still um die KI. Heute setzen wieder viele ihre Hoffnung in die KI-isierung der digitalen Gesellschaft.

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Auge, Künstliche Intelligenz, KI

(Bild: Orlando, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

In der Anfangszeit der Künstlichen Intelligenz waren die Hoffnungen noch groß: Die vom berühmten Alan Turing höchstpersönlich gestellte Frage – "können Maschinen denken?" – schien in wenigen Jahren lösbar. So einfach war es dann doch nicht, in den 70er Jahre wurde es im sogenannten KI-Winter sehr ruhig um die Disziplin.

Heute ist Künstliche Intelligenz wieder in aller Munde – ob es um Bilderkennung, die Vorauswahl von Bewerberinnen und Bewerbern, autonom fahrende Autos oder das so genannte social scoring (die Bonitätsprüfung mittels Daten aus sozialen Netzwerken) geht. Alle großen Internet-Konzerne arbeiten fieberhaft an Sprachassistenten, die das next big thing des digitalen Kapitalismus zu werden versprechen. Hier werden jedoch deutlich kleinere Brötchen gebacken. Von denkfähigen Robotern, die mit uns Menschen gleichziehen, ist nicht mehr die Rede.

Gelegenheit, einmal der Geschichte einer kontroversen Disziplin nachzuspüren, die gleich mit einem Marketing-Coup startete und seitdem durchgehend von populistischen Bildern und Vorstellungen geprägt ist. Ein Plädoyer für einen nüchternen Umgang mit datengetriebener Software-Anwendungen.

Ein Beitrag von Timo Daum

(Bild: 

Timo Daum/Fabian Grimm

)

Timo Daum, geboren 1967, Timo Daum ist Physiker, kennt sich mit dem Digitalen Kapitalismus aus, ist Gastwissenschaftler beim Institut für digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung in Berlin. Zuletzt ist im Frühjahr 2019 sein Buch "Die Künstliche Intelligenz des Kapitals" bei der Edition Nautilus erschienen.

Können Maschinen denken? Dieser Frage widmete sich Alan Turing in seinem bahnbrechenden und darüber hinaus amüsant zu lesenden Essay "Rechenmaschinen und Intelligenz" aus dem Jahre 1950 (Alan M. Turing, Computing machinery and intelligence. Mind, 59, (1950). 433-460). Gleich im ersten Absatz gibt er die passende Antwort auf die Frage: das sei "absurd"!

Warum? Weil die Begriffe Maschine und Denken an sich schon so dehnbar seien, dass viel mehr als eine akademische Diskussion nicht zu erwarten sei. Turing verwirft den Versuche, einer Definition und schlägt stattdessen ein Imitationsspiel vor, das ein eindeutiges Ergebnis auf die Frage, ob eine Maschine intelligent sei oder nicht, zu liefern in der Lage sei: Der berühmte Turing-Test der Künstlichen Intelligenz.

Beim Turing-Test kommuniziert eine Person (Jury) über einen Chat mit einem Menschen und mit einem Computer parallel. Beide versuchen, die Jury in endlicher Zeit zu überzeugen, menschlich zu sein. Gelingt es dem Computer, zu einem gewissen Prozentsatz als Mensch durchzugehen, spricht Turing diesem Computer Intelligenz zu: Er hat das Imitationsspiel gewonnen.

Es geht Turing hier um zweierlei. Erstens darum, sich von jedem Essenzialismus zu lösen und die Frage abzukoppeln vom biologischen Substrat. Und zweitens die Beantwortung der Frage gleichzusetzen mit dem erfolgreichen "So-tun-als-ob". Es geht ihm nicht um eine wir auch immer geartete echte Intelligenz. Das erfolgreiche Vorspiegeln derselben ist hinreichend – ein performativen Intelligenz-Begriff.

Alan Turing selbst wagte eine Prognose: Er schätzte die Speicherkapazität des menschlichen Gehirns auf 1010 bis 1015 Bit, der damals noch ganz jungen digitalen Speichereinheit; Computer mit 107 Bits schienen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Reichweite zu sein: "Es sollte mich überraschen, wenn mehr als 109 [Bits] erforderlich wären, um das Imitationsspiel befriedigend zu spielen (Beachte: die Kapazität der Encyclopaedia Britannica beträgt 2 × 109)."

Mehr Infos

Weiterführendes:

  • Alan M. Turing, "Computing machinery and intelligence. Mind, 59, (1950). 433-460
  • J. McCarthy, M. L. Minsky, N. Rochester, C. E. Shannon: "Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence", 31.8.1955
  • Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und Die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977
  • Joseph Weizenbaum, Über Computer, Prognosen und Sprache, in: Ad Libitum: Sammlung Zerstreuung, Volk und Welt. Berlin: Volk und Welt, 1990
  • Levesque, Hector J., Common sense, the Turing test, and the quest for real AI. Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2017
  • Kaplan, Jerry, Guido Lenz, Künstliche Intelligenz. Frechen: mitp Verlags GmbH & Co. KG, 2017.

Der erste algorithmische Schachweltmeister (IBMs Deep Blue) verfügte 1996 über 36 Knoten à 1010 Bit, jeder handelsübliche Laptop verfügt heutzutage über Arbeitsspeicher mit ca. 1011 Bit. Und doch sind Computer weit davon entfernt, mehr als ganz konkrete Aufgaben bewältigen zu können, noch keiner hat den Turing-Test bestanden geschweige denn ansatzweise die Vorstellung von menschenähnlichen Denkfähigkeiten auch nur ansatzweise simulieren können.

Als Turing seinen Test erfand, war der Begriff Künstliche Intelligenz noch gar nicht erfunden. Das besorgte ein paar Jahre später der amerikanische Mathematiker John McCarthy. Um Geldgeber für ein von ihm geplantes Sommerlager von Mathematikern zu gewinnen, erfand er den Begriff, der sich als genialer Marketing-Coup erweisen sollte: artificial intelligence. Anlässlich dieses historischen Ereignisses lieferte er gleich eine Definition mit: "Die Herstellung einer Maschine, die sich auf eine Art und Weise verhält, die wir intelligent nennen würden, wenn ein Mensch sich so verhielte." Auch hier begegnen wir dem ergebnisorientierten Kalkül à la "entscheidend ist, was hinten rauskommt." (Helmut Kohl) wieder.

McCarthy bekam sein Geld und das "Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence" konnte stattfinden – "im Wesentlichen eine ausgedehnte Brainstorming-Session", so jedenfalls der amerikanische KI-Spezialist und Autor Jerry Kaplan.