Flüchtlingslager auf Blockchain

Digitale Ausweise können Flüchtlingen helfen, sich schneller einzugliedern.

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Von
  • Russ Juskalian

Bassam schiebt einen Einkaufswagen durch einen Laden mit Reissäcken, frischem Gemüse und anderen Nahrungsmitteln. Sein schwarzes Sweatshirt hat er in die Jeans gesteckt, die ihrerseits in schlammverkrusteten Stiefeln steckt. An der Kasse bezahlt er nicht mit Bargeld oder Kreditkarte. Stattdessen blickt er in eine schwarze Box mit Spiegel und Kamera. Einen Moment später erscheint Bassams Auge auf dem Bildschirm der Kassiererin. Bassam steckt seine Quittung ein, auf der „EyePay“ und „World Food Programme Building Blocks“ stehen, und geht hinaus in das mittägliche Chaos.

Der Tazweed-Supermarkt liegt in der jordanischen Steppe am Rande des Zaatari-Flüchtlingslagers für 75000 Menschen, knapp zehn Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Obwohl Bassam es vielleicht nicht weiß: Sein Einkauf ist eine der ersten humanitären Anwendungen der Blockchain. Indem er seine Iris scannen lässt, bestätigt er anhand einer UN-Datenbank seine Identität und lässt gleichzeitig den Betrag von einem Familienkonto abbuchen, das das World Food Programme (WFP) auf einer Variante der Ethereum-Blockchain führt.

Das Anfang 2017 gestartete Programm „Building Blocks“ unterstützt das WFP bei der Verteilung von Nahrungsmitteln an mehr als 100000 syrische Flüchtlinge in Jordanien. Bis Ende dieses Jahres will es alle 500000 Flüchtlinge im Land erfassen. Wenn es erfolgreich ist, könnte es die Einführung von Blockchain-Technologien bei den Vereinten Nationen und darüber hinaus beschleunigen.

Building Blocks entstand, um Geld zu sparen. Das WFP trägt zur Ernährung von 80 Millionen Menschen auf der ganzen Welt bei. Seit 2009 liefert es Nahrungsmittel aber bevorzugt nicht mehr direkt an Bedürftige aus, sondern überweist ihnen Geld, damit sie sich selbst etwas kaufen können. Dieser Ansatz soll mehr Menschen ernähren können, der lokalen Wirtschaft helfen und die Transparenz erhöhen. Er führt allerdings auch eine neue Schwachstelle ein: lokale und regionale Banken, die sich die Abwicklung gut bezahlen lassen. Bei Leistungen von insgesamt 1,3 Milliarden Dollar (2017) hätte das WFP allein für die Gebühren Millionen von Mahlzeiten kaufen können. Die Blockchain führte zu einer Reduzierung dieser Gebühren um 98 Prozent. „Es ist ein großer Erfolg“, sagt Houman Haddad, der Mann hinter dem Building-Blocks-Projekt. „Wenn wir jetzt einen Anruf bekommen, dass 20000 Menschen in der Nacht kommen, können wir morgens alles für sie bereit haben. Früher hätte es zwei Wochen gedauert und Papiergutscheine erfordert.“

Wenn es nach ihm geht, ist das aber erst der Anfang. Er will mit der Blockchain ein zentrales Problem jeder humanitären Krise angehen: Wie bringt man Menschen ohne Papiere und Bankkonten in ein Finanz- und Rechtssystem, in dem beides Voraussetzung für einen Job und ein sicheres Leben ist?

Haddad träumt davon, dass Bassam eines Tages mit einer digitalen Brieftasche aus Zaatari herausmarschiert, die unter anderem Ausweise, Bildungsabschlüsse, familiäre Beziehungen, Rechnungen, Urkunden, Atteste und den Zugang zu allen Bankkonten enthält. Ein solches Wallet könnte sich auf einem Chip als Schlüsselanhänger, auf einer Kreditkarte oder auf einer sicheren Enklave des Smartphones befinden.

So könnten Flüchtlinge wie Bassam überall ihre rechtliche Identität nachweisen – auch wenn ihre Dokumente auf der Flucht verloren gegangen sind, der Staat ihre Ausweise für ungültig erklärt hat oder die Schule mit den Abschlusszeugnissen bombardiert wurde. Arbeitgeber könnten auf diese Weise das Gehalt einfacher überweisen, Banken die Kreditgeschichte ansehen, Einwanderungsbehörden die Identität überprüfen. Hätte Bassam ein digitales Wallet gehabt, bevor er seine Heimatstadt Daraa verlassen musste, wäre er vielleicht nie in Zaatari gelandet, sondern sofort ein produktives Mitglied der jordanischen Gesellschaft geworden. (grh)