Frühe Tests als Rettung

Mittlerweile lassen sich manche tödlichen Gen-Krankheiten behandeln – wenn sie rechtzeitig erkannt werden. Auf der anderen Seite besteht bei umfassenden Tests die Gefahr von falschen Positiven und somit unnötiger Angst.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Emily Mullin
Inhaltsverzeichnis

Fünfzehn Kinder in den USA, die mit einer seltenen Muskel-Krankheit geboren wurden, würden heute wahrscheinlich nicht mehr leben, wenn sie nicht kurz nach ihrer Geburt mit einer experimentellen Gen-Therapie behandelt worden wären.

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Die meisten dieser Kinder wären durch die so genannte spinale Muskelatrophie wohl vor ihrem zweiten Geburtstag gestorben. Erfreulicherweise können die meisten von ihnen heute stattdessen selbstständig sprechen und sitzen, und einige sogar gehen – ohne die Behandlung wäre das niemals möglich gewesen. Das Unternehmen dahinter heißt AveXis, und die dramatischsten Besserungen beobachtet es, wenn Kinder in ihren ersten Lebensmonaten behandelt werden.

Das bedeutet, dass die kleinen Patienten so früh wie möglich identifiziert werden müssen – im Idealfall direkt nach der Geburt, denn das kann den Unterschied zwischen Leben und Tod bei ihnen ausmachen. Doch während AveXis und andere Biotech-Unternehmen mit Hochdruck daran arbeiten, transformative Gen-Therapien auf den Markt zu bringen, führen die US-Bundesstaaten nur zögerlich Screening-Tests für genetische Krankheiten ein, die zunehmend behandelbar sind.

Die Tests für Neugeborene in den USA berücksichtigen derzeit mindestens 34 Krankheiten, in mehreren Bundesstaaten sind es noch einige mehr. Nach spinaler Muskelatrophie (SMA) aber wird fast nirgends gesucht, obwohl sie die wichtigste genetische Ursache für Todesfälle im Säuglingsalter ist. Ungefähr 400 Babys pro Jahr werden damit in den USA geboren. Die Therapie von AveXis richtet sich gegen Typ 1, die häufigste Form davon.

Ein Screening von Neugeborenen auf SMA würde ihnen die Chance geben, ein möglichst normales Leben zu führen. „Diese Kinder sollten ihr Leben nicht in einem Rollstuhl verbringen müssen, sondern lieber laufen, gehen und spielen“, sagt Khrystal Davis, Mutter eines betroffenen Kindes und Gründerin der Texas SMA Newborn Screening Coalition.

Bei der Behandlung von SMA des Typs 1 ist Zeit ein entscheidender Faktor. Ein Einzelmutation im Gen SMN1 sorgt hier für frühe und irreversible Schäden an den Motoneuronen von Babys im Stammhirn und im Rückenmark. Diese Schäden führen zu Muskelschwäche, und die Kinder bekommen Schwierigkeiten beim Atmen und Schlucken.

Davis' Sohn Hunter ist inzwischen sechs Jahre alt. Dass er noch lebt, verdankt er Spinraza, einem im Dezember 2016 zugelassenen bahnbrechenden Medikament gegen SMA. Kinder, die dieses Mittel bekommen, machen bemerkenswerte Fortschritte. Allerdings muss es lebenslang alle vier Monate durch eine Lumbalpunktion verabreicht werden. Im ersten Jahr kostet das erschreckende 750.000 Dollar, anschließend 375.000 Dollar pro Jahr.

Die Gen-Therapie von AveXis dagegen ist als Einmal-Behandlung angelegt und wird in einer 60-minütigen Prozedur durch eine Vene injiziert. Dabei gelangen mit Hilfe eines manipulierten Virus gesunde Kopien des SMN1-Gens in den gesamten Körper. Wenn es dort angelangt ist, beginnt das neue Gen mit der Produktion eines Proteins, das für das Überleben der Motoneuronen entscheidend ist.

Wenn man damit jedoch zu lange wartet, „haben die Kinder eine begrenzte Zahl von Motoneuronen als Ansatzpunkt dafür, dass die Gen-Therapie effektiv wirken kann“, erklärt Sukumar Nagendran, medizinischer Leiter von AveXis.

Im Durchschnitt erhielten die 15 Kinder in der AveXis-Studie die Therapie vier Monate nach der Geburt. Alle reagierten darauf, aber laut Nagendran gab es die dramatischsten Verbesserungen bei den zwei Babys, die in ihren ersten zwei Lebensmonaten behandelt wurden. Sie können mittlerweile eigenständig gehen.

Im April hat AveXis eine neue Studie begonnen, bei der die Babys sofort nach der Geburt behandelt werden. Anhand der Ergebnisse werden Forscher feststellen können, wie viel besser es den Patienten ergeht, wenn sie als Neugeborene behandelt werden.

Auch andere Gen-Therapien könnten bei Kindern besser funktionieren, wenn sie erfolgen, bevor ein genetischer Defekt Zeit hatte, den Körper irreparabel zu schädigen. So entwickelt Bluebird Bio eine Therapie, die bei 15 von 17 Kindern eine tödliche Hirnkrankheit namens zerebrale Adrenoleukodystrophie (ALD) stoppen konnte. Auf Anfrage von Technology Review teilte das Unternehmen mit, die Ergebnisse seien besser, wenn die Kinder vor dem Auftreten von Symptomen behandelt würden.

Am 8. Februar empfahl ein nationaler Ausschuss für Test an Neugeborenen in den USA, SMA in das empfohlene universelle Screening-Programm aufzunehmen. Im nächsten Schritt müsste sich der US-Gesundheitsminister Alex Azar dieser Empfehlung anschließen.

Doch selbst dann wären SMA-Tests bei jedem Neugeborenen in den USA noch keine beschlossene Sache. Eine Empfehlung des Ausschusses ist zunächst einmal nichts weiter als eine Empfehlung, die nur in den zwei Staaten Kalifornien und Florida bindend ist. Andere Staaten können sich den Vorschlag zu eigen machen oder eben nicht.

Zusätzliche Krankheiten in das Test-Programm aufzunehmen, erhöht unweigerlich die Kosten, die derzeit je nach Bundesstaat zwischen 110 und 150 Dollar liegen. Meist werden die Kosten von Versicherungen oder Medicaid übernommen, in manchen Bundesstaaten aber kommt das Geld auch aus dem Budget des Gesundheitsministeriums. Die Zusatzkosten für SMA-Tests würden laut einem Bericht der US-Regierung von diesem März zwischen 10 Cents und 1 US-Dollar liegen.

Bei ALD wiederum hat das US-Gesundheitsministerium bereits im Jahr 2015 die Aufnahme in die bundesweite Screening-Liste empfohlen, doch die Bundesstaaten setzen diese Empfehlung nur langsam um. Bislang wurde der Test nur in einer Handvoll Staaten eingeführt.

„Es ist ein Alptraum“, sagt Maria Kefalas, Patienten-Anwältin und Gründerin der Calliope Joy Foundation, die Geld für Kinder mit Leukodystrophie sammelt. Bei ihrer Tochter wurde im Alter von zwei Jahren eine seltene genetische Hirnkrankheit namens metachromatische Leukodystrophie diagnostiziert. Mit einer experimentellen Gen-Therapie, die nur an einem einzigen Standort in Mailand verabreicht werden kann, wurden bereits Kinder gerettet – aber nur, wenn sie früh genug erfolgte. Das Unternehmen Orchard Therapeutics mit Sitz in London arbeitet daran, diese Therapie auf den Markt zu bringen.

Doch nicht jeder ist dafür, Neugeborene zusätzlichen Tests auf Krankheiten zu unterziehen. Die Ergebnisse könnten für unnötige Ängste bei Eltern sorgen, und es bestehe die Gefahr von falschen Positiven, sagen Kritiker.

Bei einem Pilotprogramm für Tests auf SMA im Bundesstaat Massachusetts zum Beispiel wurde bei einem Baby die Krankheit festgestellt. Einige Monate später aber stellte sich das als falscher Alarm heraus. „Können Sie sich vorstellen, was die Eltern durchgemacht haben?“, fragt Kathryn Swoboda, eine Kinderneurologin am Massachusetts General Hospital, die an dem Pilotprogramm beteiligt ist. „Das ist wirklich hart für Familien“.

Nicht alle Eltern wollen wissen, ob ihr Kind einmal eine schwere Krankheit entwickeln wird, insbesondere, wenn ihr Ausbruch noch Jahre auf sich warten lassen würde. SMA ist ein hervorragendes Beispiel dafür: Es gibt fünf Typen davon, und während sie in den meisten Fällen in den ersten 6 bis 18 Lebensmonaten auftreten, dauert es bei einem bis zum Erwachsenenalter. Ähnlich kann ALD irgendwann im Alter zwischen 2 und 10 Jahren ausbrechen. Laut Swoboda könnte das Wissen darüber es für Eltern schwerer machen, eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen.

Trotzdem sind Menschen wie Kefalas der Meinung, dass die Vorteile die Risiken überwiegen. „Diese Informationen gleich bei der Geburt zu bekommen, hat so viele Aspekte“, sagt sie, „bei manchen Krankheiten aber ist die Sache eindeutig“.

(sma)