Essay: Jedem seine eigene Realität

Augmented-Reality-Brillen können in wenigen Jahren die Welt verändern – und das radikal.

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Essay: Jedem seine eigene Realität

Der Filmemacher Keiichi Matsuda hat imaginiert, wie die neue AR-Realität aussehen könnte.

(Bild: Screenshot Vimeo / Keiichi Matsuda)

Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Vor dem Siegeszug des Internet versammelten sich Menschen vor dem Fernseher wie vor einem Lagerfeuer. Sie sahen alle das Gleiche und hatten am nächsten Tag das gleiche Diskussionsthema. Wenn ich als Kind in der Bahn saß, lasen alle ein und die selbe Lokalzeitung (von der es in meiner Stadt ja nur eine gab) und man konnte sicher sein, dass die darin enthaltenen Informationen ankamen.

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Meinungsbildung ließ sich quasi in Echtzeit verfolgen. Das war sicherlich nicht immer gut und auch anfällig für Manipulationen gewisser Kreise, aber doch irgendwie wesentlich weniger anstrengend. Die Welt war eine einfachere, zumindest gefühlt.

Heute ist alles ganz anders. Öffentlichkeit, wie es sie früher einmal gab, zerfasert immer mehr – und mit ihr das, was wir Realität nennen. Die eine "Zielgruppe" ist nicht mehr existent. Schon lange kann man sich im Netz seine eigene Realität zusammensuchen. Social Media, YouTube und andere populäre Plattformen machen es möglich. Schnell findet man noch für die merkwürdigste Geisteshaltung eine passende Peergroup samt Anschluss, die einen bestärkt und in einer Filterblase festhält – sei es nun die Vorstellung von der flachen Erde oder die von der weltweiten Herrschaft der Reptilien.

Man hat damit die Möglichkeit, sich in seiner Ecke des Netzes zu verschanzen, ohne jemals vom eigenen, wahren Glauben abzufallen; gegenläufige Ideen ignoriert man einfach oder bekommt sie dank "Personalisierung" von Facebook und Konsorten erst gar nicht mehr vorgesetzt.

Ein Gegengift existiert allerdings: Menschlicher Kontakt, zumindest, wenn man sich ein gewisses Maß an Offenheit bewahrt hat Die Anziehungskraft der Filterblasen hält nämlich oft nur so lange, wie man hinter der Tastatur verharrt. Geht man ins echte Leben, redet mit echten Menschen, die aus Fleisch und Blut vor einem stehen, können sich Perspektiven schon aus reiner Emotionalität wieder ändern und man erkennt, dass man womöglich mit seiner festgefügten Meinung danebenliegt – weil das Gegenüber wohl doch kein derart hassenswertes Subjekt ist, wie man es sich in der eigenen Gedankenwelt ausgemalt hat.

Doch ich fürchte, dieses zutiefst menschliche Lösungsmodell gegen alberne bis inhumane Geisteshaltungen hat nur noch eine beschränkte Lebensdauer. Von der Tastatur wegzugehen oder das Smartphone in die Schublade zu legen, wird in absehbarer Zeit schlicht keine Option mehr sein. Denn wir werden uns unsere eigene Realität schaffen können – gleich vor unserer Nase.

Das liegt am Siegeszug einer Technik, deren Auswirkungen heute noch wie eine Spielerei aussehen: Die Augmented Reality, kurz AR. Innerhalb von höchstens zehn Jahren werden wir, so sind sich die meisten Technologen einig, Brillen haben, die die Echtwelt mit Daten aus der Cloud kombinieren. Und das wird so praktisch und hilfreich sein, dass wir diese Geräte höchstens zum Aufladen abnehmen. Und mit AR könnte besagte Rückkehr ins Zwischenmenschliche verloren geht – vollständig.

Einige Beispiele. Wir könnten künftig Personengruppen, die wir nicht sehen wollen, virtuelle Masken aufsetzen oder sie ganz aus unserem Blickfeld ausblenden, als wären sie nicht existent. Lebt man in einer Stadt mit viel Müll und vielen Bettlern, lässt man einfach virtuelle Parklandschaften wachsen, damit man das nicht sehen muss. Unser viel zu kleines Apartment mit Blick auf die gegenüberliegende Häuserwand wird zur (wenn auch nicht anfassbaren) Luxusvilla. Das Gegenüber wird zum frei manipulierbaren Objekt. Meine Freundin gefällt mir nicht? Ich mache sie mir zum Supermodell. Ich mag Katzen, will sie aber weder pflegen noch versorgen? Ich hole sie mir virtuell. Und, und, und.

Was vielleicht zunächst verrückt und nach Science Fiction klingt, ist technisch schon heute grundsätzlich durchführbar und wird in Prototypen bereits umgesetzt. Apple und Google liefern längst Softwarekits für Augmented Reality in ihren Mobilbetriebssystemen mit, die nur darauf warten, dass es endlich vernünftige AR-Brillen gibt.

All das wird dazu führen, dass wir uns künftig auch im "echten Leben" unsere jeweils eigene Realität aus dem Rechner schaffen können. Die dann mögliche Entfremdung der Menschen voneinander lässt mich erschaudern. Die Filterblase des Netzes könnte real werden, ohne dass wir jemals wieder aus ihr herausfinden.

(bsc)