Ist das Stadtleben nun gut oder schlecht?

Klartext: Stadt, Land, Stuss

Die Utopie des Landlebens steht als Symbol gegen den Stress, den wir in der aktuellen Konzentration aufs Stadtleben bemerken. Aber Pendeln macht eben auch unglücklich. Wie immer keine einfachen Antworten

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Von
  • Clemens Gleich

„Raus aus den Städten!“ rufen die Müslimuttis in einer Gegenbewegung zur Urbanisierung. Das Leben in Ballungszentren mache krank, körperlich wie geistig, indem es den Menschen von der Natur abnabele, die er für sein Wohlbefinden braucht. Die Argumentation fußt tatsächlich in Fakten, die wir über das Stadtleben wissen. Stadtbewohner zeigen höhere Raten mentaler Erkrankungen wie Angststörungen, Schizophrenie und Depression. Erste Daten deuten darauf hin, dass die frühere Vermutung von Stress als Ursache wahrscheinlich stimmt. Städter leiden zudem häufiger an Allergien, nach Stand der Forschung vermutlich, weil ihr Immunsystem mit deutlich weniger Trainingsdreck in Berührung kommt als auf dem Land. Hat Frau Roche also recht?

Warum das Leben in den Städten untersucht wird, ist klar: Schon heute lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. In fernerer Zukunft wird das wahrscheinlich eine große Mehrheit tun. Wir wissen mittlerweile recht sicher, dass der Mensch sich besser fühlt, wenn er Grün sieht, wenn er rausgeht. Wir wissen jedoch auch, dass dieses Grün in Städten genauso funktioniert wie auf dem Acker draußen.

Viele Forscher wollen deshalb das Leben in den Städten künftig planerisch verbessern, statt dem Traum nachzuhängen, dass alle in der Pampa verstreut leben sollen. Gemeinschaften innerhalb der Städte stärken, damit das Individuum nicht mitten im Massenstress vereinsamt. Kurze Wege, am besten für zu Fuß. Radwege. Lokale, verteilte Infrastruktur. Und natürlich: bezahlbarer Wohnraum. Im Prinzip das Gegenteil der heutigen Autostädte, und die Entwicklung hat längst angefangen. Ich kann mich in meinem Teil von Stuttgart zum Beispiel nicht über zu wenig Grün beschweren. Im Gegenteil müssen wir uns der Flora gelegentlich mit der Machete erwehren, dass sie uns nicht das Küchenfenster zuwuchert. Stadtstaub düngt gut.

Leben auf dem Land ist Leben im Auto

Obwohl die Intuition zunächst etwas Anderes vermutet: Das Landleben verbraucht meistens mehr Ressourcen als das urbane Dasein. Wenn ich Aussteiger sehe, die ihr Werkeln auf riesigen alten Bauernhöfen als Ideal für alle anpreisen, schüttele ich den Kopf: Sei froh, dass du dein Leben gefunden hast. Wir alle könnten das nicht, denn dazu gibt es nicht genügend Platz und sonstige Ressourcen auf dieser Welt. Vor allem verdienen viele Ländler ihr Geld eben immer noch in der Stadt, in die sie folglich pendeln – meistens mit dem Auto. Die Entfernung, die Pendler täglich zurücklegen, ist im Median zwischen 2000 und 2014 um über 20 Prozent gestiegen, am stärksten bei den höher qualifizierten Berufen. Der Anteil der Pendler in der Gesamtbevölkerung steigt ebenfalls. Diese Entwicklung halte man an die Erkenntnis, dass Pendeln die Menschen mit steigender Distanz unglücklicher macht. Das Dilemma wird bleiben: Die Urbanisierung sorgt dafür, dass auch weiterhin mehr Arbeitsplätze in den Städten als auf dem Land entstehen. Es fehlt eigentlich nur noch eine wissenschaftliche Gegenüberstellung von Pendelstress zu Stadtstress. Persönlich hat sie wohl jeder schon einmal zur Wohnortwahl durchgeführt.

Ich glaube, dass sich die Denkarbeit für zukünftige Städte lohnt. In den Städten kommen Menschen zusammen, infizieren sich gegenseitig nicht nur mit Stress, sondern vor allem mit Ideen, und obwohl unsere verbesserten Kommunikationstechniken einen Teil des Effekts allen zugänglich machen, entstehen die Avantgarden trotzdem immer noch in den Ballungszentren. Ganz ohne Begegnung springen offenbar weniger Funken über. Man könnte Universitäten auch auf grüne Wiesen setzen, mit Wohnheimen, Lebensmittelversorgung, aber sonst nur Kühen. Man setzte sie aber in oder an Städte. Dort befruchtet sich stets der Campus mit seinen jungen Menschen von außerhalb mit der jeweiligen Stadt. Poetry oder Science Slams können nur dort entstehen, wo Kulturfreude auf Bildung auf Motivation trifft. Beispiel Berlin: Deutschlands Geldgrab Nummer Eins trägt eben auch bemerkenswert zum Kulturschaffen unserer Republik bei.

The Last of Us

Wenn wir Plädoyers für das bessere Leben in Zukunft in Überschriftenkürze ausrufen wollen, dann vielleicht „Lebenswertere Städte!“ oder so. Ein pauschales „Raus aus den Städten!“ rate ich eigentlich nur Preppern, die unserer gegenwärtigen Stabilität, unserer dichtgedrängten Städtezivilisation nicht trauen. Infektionssimulationen zeigen nämlich, dass Isolation bei virulenten Katastrophen die besten Überlebens-Chancen bietet. Wenn die Zombie-Apokalypse kommt, wird Charlotte Roche mich überleben. Bis dahin bin ich mit meinen fünf barfüßigen Schritten Pendeldistanz Bett-Büro, hundert Schritten in den Wald und ein paar hundert zum Einkaufen oder Saufen nicht wirklich neidisch. (cgl)