Serendipisieren

Die Ablenkungskräfte im Netz sind für die einen ein Schrecknis, für die anderen ein Potential voller Schöpfungskraft. Und es gibt eine Art, sich gewinnbringen da durchzubewegen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

In der Dämmerung sieht das menschliche Auge Dinge, die von aussen in den Rand des Blickfelds geraten, mit einer eigenartigen Schärfe – eine Überlebensfähigkeit aus einer fernen stammesgeschichtlichen Vergangenheit. Heute finden auf diese Weise Intuitionen ihren Weg ins Bewusstsein. Während die Aufmerksamkeit auf etwas anderes fokussiert und abgelenkt ist, kann sich beiläufig Neues einschleichen, wie ein schlankes Raubtier.

Das Internet ist die mächtigste Ablenkungsmaschine der Geschichte. Für die einen ist er ein Schrecknis, für die anderen ein Potential voller Schöpfungskraft. Wenn das Feuer im digitalen Zentrum der Aufmerksamkeit manchmal für einen Moment nachlässt, sehen wir staunend: Nicht mehr der Weg ist das Ziel – nun ist sozusagen der Rand die Mitte. Wohin uns diese neuen, zentrifugalen Kräfte lenken, ist umstritten.

Manche halten das Jagen und Sammeln von Informationen für eine Oberschichtsangelegenheit. Eine Sache von Personen, die so viel Zeit und Kompetenz haben, relevante Informationen im Netz überhaupt aufzuspüren. Menschen, die selten Zeitung lesen oder Nachrichten im Fernsehen sehen, sind die eigentlichen Verlierer des derzeitigen Medienwandels, denn sie sind weit davon entfernt, selbst die Initiative zu ergreifen und eine Handvoll verschiedene Sichtweisen einer Story im Internet zu lesen. Sie versuchen stattdessen mit Fake News, die eigentlich moderne Literatur sind, Informationen nicht zu finden, sondern zu erfinden.

Der Washington-Post-Journalist Marc Fisher beklagt, dass wir mit dem Aussterben der gedruckten Zeitung die Möglichkeit verlören, "beim Überfliegen der Seiten zufällig über Nachrichten zu stolpern". Fisher weiter: "Dieses beiläufig erworbene Wissen ist meiner Meinung nach essentiell für die Demokratie, weil es die Massen erreicht. Wenn uns diese Möglichkeit genommen wird, ist das ein wirklich schlimmer Verlust für unsere demokratische Gesellschaftsordnung."

Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Es gibt im Netz eine neue Qualität von beiläufigem Informations- und Wissenszufluss, für die es im Deutschen noch gar keinen Begriff gibt, aber ein greifbares Gefühl. Im Englischen gibt es ein Wort dafür: Serendipity – interessante Dinge zu finden, die man gar nicht gesucht hat. Zu einer Bestandsbibliothek gehörte immer schon diese Mischung aus Flanieren, Blättern und Probieren, dieses Eintauchen in kleine Zufälligkeiten, die ein ganzes Leben verändern können. Serendipity ist inzwischen fast so etwas wie die natürliche Art, sich durchs Netz zu bewegen.

Die Verkündung zu Internet-Frühzeiten, das Wissen der Welt stünde uns nun zur Verfügung, war eher einer Euphorie geschuldet als einer Tatsache. Zugang zum Wissen der Menschheit gibt es seit Jahrtausenden. Fortschritte hat nicht primär die Technik – also der Zugriff auf die Bücher – gebracht, sondern die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten und -Chancen, Ideenreichtum und der Kulturwille der Menschen. Zwar wird ein Lesemuffel auch heute nicht durch die blossen Informationsfluten im Netz bibliophil werden. Aber durch diese verschwenderische kulturelle Überfülle zu serendipisieren, die natürlich nicht nur aus ausgewogenen Leitartikeln und soliden Fakten besteht, macht mehr Menschen neugierig auf Wissen im allerweitesten Sinn als je zu vor.

(bsc)