Auf der Suche nach dem Gedächtnis

Ein MIT-Forscher nutzt eine Bodycam und einen Hirnwellentracker, um zu ermitteln, wie Erinnerungen im Körper gespeichert werden.

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Auf der Suche nach dem Gedächtnis

(Bild: Hannah Campbell / Screenshot YouTube)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Rachel Metz
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Mostafa "Neo" Mohsenvand läuft häufig etwas merkwürdig durch die Gegend: mit einem auf der Brust befestigten Smartphone samt Fischaugenlinse und einer mit Elektroden versehenen Elektroenzephalografie-Kappe auf dem Kopf. Das tut er aber nicht zum Spaß, sondern für die Wissenschaft, wie er stets betont.

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Mohsenvand ist Masterstudent am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er in der Fluid Interfaces Group unter anderem an neuartigen Computerschnittstellen forscht. Bei seinem jüngsten Projekt geht es aber um etwas anderes: Er will so viele Daten wie möglich über sich selbst und die ihn umgebende Welt sammeln – und dabei die biometrischen Signale seines Körpers mit Zeiten und Ereignissen korrelieren. Es geht dabei um nicht weniger als die Frage, wie das menschliche Gedächtnis ganz praktisch funktioniert.

Seit Januar trägt er die Kamera nun schon, zudem ein schwarzes Band am linken Arm, mit dem sich physiologische Signale des Körpers erfassen lassen. Im Juni kam dann noch ein mobiles EEG-Headset hinzu, mit dem sich Gehirnwellendaten unterwegs erfassen lassen. Alles zusammen trägt er zwischen drei und sechzehn Stunden am Tag.

Bislang kamen so 1500 Stunden an Aufzeichnungen zusammen. Alle paar Tage nutzt Mohsenvand eine Software, um Videoaufnahmen und biometrische Signale zu kombinieren. Dies ergibt mehrere Minuten lange Filme, die sich mit dem Auftreten verschiedener physiologischer Messwerte beschleunigen oder verlangsamen. Darunter sind Herzfrequenz und Hautwiderstand, also Dinge, die er schwerlich bewusst kontrollieren kann und von denen er annimmt, dass sie besondere Ereignisse in seinem Leben markieren können. "Ich kann einen ganzen Tag nehmen und ihn so in fünf Minuten quetschen und mir ansehen", erklärt der Forscher.

Die fertigen Filme – mittlerweile entstanden 300 Stück, die einzelne Tage ebenso zusammenfassen wie Kombinationen aus drei oder vier – sind durchaus faszinierend, auch wenn sie vor allem das Alltagsleben zeigen. In einem Clip, der 40 Minuten in zwei Minuten komprimiert, sind beschleunigte Ausschnitte von Mohsenvand zu sehen, wie er sich mit seiner Freundin Hannah Campbell auf einem Spaziergang befindet. Dann verlangsamt sich der Film, während er an einem Bahnhof wartet. In einem weiteren Film fährt Mohsenvand mit seinem Fahrrad in einem Affenzahn durch die Stadt, bevor er beim Spielen seiner Gitarre zu sehen ist, während Bild und Ton sich verlangsamen.

Ein anderer Clip ist eine zweiminütige Zusammenfassung der Herzfrequenzvariationen von Mohsenvand, während er den Film "Whiplash" anschaut, einen Streifen über ein Trommlerwunderkind und seinen ihn misshandelnden Musiklehrer. Es ist ein schneller Film und die Trommelsequenzen fliegen so schnell vorbei, dass man sie kaum erkennen kann. An zentralen Punkten wird es langsamer, dann nämlich, wenn der Musiklehrer ins Bild kommt und das Wunderkind beispielsweise lobt.

"Ich reagiere auf diese Vater-Sohn-Beziehungen sehr sensibel, wie es ausschaut", sagt Mohsenvand dazu. Sein Herzfrequenz steigt, wenn Andrew, der Hauptcharakter in "Whiplash", mit seinem Vater interagiert.

Der Forscher hat von seiner Datensammlung, der Zusammenfassung und dem erneuten Betrachten seiner Tage auch noch ganz andere Sachen gelernt. Dazu gehört etwa, wie nett andere Menschen zu ihm sind – so fragt fast jeder im Media Lab, wie es Mohsenvand geht.

Mit den Daten versucht er außerdem, selbst besser mit seiner Umwelt umzugehen. So merkte er etwa, dass er bei einer Konversation mit seinem Mitbewohner, in der es um dessen Matheprüfung ging, nicht aufmerksam genug war. Nachdem er das in der Zusammenfassung gesehen hatte, fragte Mohsenvand nach, ob er beim Lernen helfen könnte.

Bei dem Experiment gibt es einige Grundregeln. So bedeckt er die Kameralinse oder stellt sie nach oben, um sein Gesicht zu zeigen, wenn er auf die Toilette geht. (Angehalten wird die Aufnahme hingegen nicht, weil er die physiologischen Effekte messen will, die der Klogang haben könnte. Festgestellt hat er beispielsweise schon, dass sein Herzschlag zurückgeht.)

Eine weitere Regel: Keine Aufnahme während Sex. Das sei ein Beschluss gewesen, den er und seine Freundin zu Beginn des Projekts getroffen hätten, weil sie Angst hatten, dass dieses Material gestohlen werden könnte. Die Aufnahmen landen derzeit in einem gesicherten Dropbox-Account.

Um auf Datenschutzbedenken anderer Personen einzugehen, macht er sie stets auf Aufnahme und Zweck aufmerksam, wenn er beispielsweise einen Aufzug oder einen Raum voller Menschen betritt. Die Aufnahme-App, die er auf seinem Pixel-2-Smartphone verwendet, gibt zudem laut durch, wenn die Aufzeichnung beginnt oder endet. Will jemand nicht aufgenommen werden, stoppt er die Aufnahme.

Heather Abercrombie, Juniorprofessorin an der University of Wisconsin – Madison, die das "Mood and Memory Laboratory" der Hochschule führt, meint, es sei wichtig, dass Forscher Daten ganzer Personengruppen erfassen, statt sie nur als Einzelpersonen zu erfassen. Da Menschen jedoch unterschiedliche physiologische Reaktionen auf verschiedene Situationen hätten, könnte das Life-Logging von Mohsenvand dennoch nützlich sein. "Wenn wir über einen Zeitraum erfassen können, was an Einzelpersonen anders ist, erweist sich das als sehr sinnvoll."

Dennoch sieht Abercrombie gewisse Probleme mit Mohsenvands Ansatz. Die Herzfrequenzdaten und die Information, wie schnell sich der Herzschlag beschleunigt, könnten das falsche Signal sein, wie frühere Untersuchungen der Forscherin zeigen. Sie hat festgestellt, dass die Herzfrequenz sogar für eine halbe Sekunden langsamer wird, wenn etwas wichtiges passiert, ein unerwarteter Anruf etwa, oder eine bekannte Person, die man in einer Menschenmenge sieht. Dann kehrt das Herz zur normalen Frequenz zurück.

Abercrombie meint außerdem, dass es schwierig wird, aus den EEG-Daten sinnvolle Rückschlüsse zu ziehen, da selbst ein einfaches Augenzwinkern Signalinterferenzen erzeugt. Mohsenvand sieht dies allerdings anders, ihm zufolge werden nur wenige der 32 Kanäle seines Headsets dadurch beeinträchtigt.

Das Experiment geht jedenfalls weiter. Der Forscher plant, die Kappe und den Rest der Hardware mindestens neun Stunden pro Tag – das entspricht der maximalen Akkulaufzeit – aktiv zu lassen und das mindestens über das nächste Jahr hinweg.

Aber auch danach wird das Vorhaben wohl weitergehen. Plant Mohsenvand ein Ende der Filmerei? Keinesfalls. "Ich werde das vermutlich tun, bis ich sterbe." So sehr hat ihn die Erfassung seines Lebens also gepackt.

(bsc)