Prognose bis 2030: Dekaden der Disruption

Automatisierung und demografischer Wandel werden in den kommenden Jahren für Verwerfungen sorgen, wie sie die Welt seit Jahrzehnten nicht gesehen hat, sagen Unternehmensberater voraus. Muss der Staat eingreifen?

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Dekaden der Disruption

(Bild: "golden disruption" / Jes / cc-by-sa-2.0)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Sascha Mattke
Inhaltsverzeichnis

Rund 80 Prozent der Arbeitnehmer in den USA werden in den kommenden Jahrzehnten von der voranschreitenden Automatisierung der Arbeitswelt betroffen sein, entweder durch stagnierende Löhne oder durch direkte Jobverluste. Das ist eines der Ergebnisse einer umfassenden Studie, in der sich Experten der Beratungsfirma Bain Consulting mit den kombinierten Auswirkungen von Automatisierung, demografischem Wandel und Ungleichheit beschäftigt haben.

Möglicherweise, so schreiben die Berater, steuert die Welt auf wirtschaftliche Verwerfungen zu, wie es sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben habe. Auf der einen Seite sei dank technischen Fortschritts mit einer massiven neuen Investitionswelle zu rechnen, die nach der Stagnation seit der Finanzkrise 2008 zu deutlichen Produktivitätssteigerungen führen werde. Auf der anderen Seite könnten dadurch etwa in den USA 20 bis 25 Prozent der bestehenden Jobs verloren gehen. Die dadurch zunehmende Ungleichheit wiederum berge die Gefahr, dass nicht genügend Nachfrage entsteht, um die erhöhte Produktionskapazität auszulasten.

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„Unsere Analysen sprechen dafür, dass die Tiefe und Breite der Veränderungen in den 2020er Jahren diese Transformation von vielen früheren unterscheiden werden“, heißt es in der Studie. Die Berater erwarten ganze „Dekaden der Disruption“ und haben der kommenden schwierigen Zeit bereits einen Namen gegeben: die große Transformation.

Denn tatsächlich scheinen derzeit zwei Trends zusammenzulaufen, die gemeinsam dafür sorgen könnten, dass wenig bleibt wie es war: Die Generation der Baby-Boomer, die lange Zeit über für steigende Arbeitnehmer-Zahlen und somit höhere Produktion und Nachfrage gesorgt hat, kommt in die Jahre und steht dem Arbeitsmarkt nicht mehr lange zur Verfügung. Die entstehende Knappheit könnte die Löhne steigen lassen, jedoch werden laut der Studie bald viele weitere Jobs von Maschinen übernommen werden können, was in die entgegengesetzte Richtung wirkt.

„Die nächste Phase der Automatisierung hat begonnen, und in den kommenden Jahren wird sie sich beschleunigen“, schreiben die Bain-Berater. In den USA sei vor diesem Hintergrund mit 8 Billionen Dollar an zusätzlichen Investitionen zu rechnen. Dies habe das Potenzial, die Wirtschaft eine Zeitlang gut am Laufen zu halten – bis sich dann herausstellt, dass die Konsumnachfrage nicht mehr mithalten kann, weil die Automatisierung zu viele Jobs gekostet und die Löhne zu sehr gedrückt hat. Dies weckt Erinnerungen an einen Spruch, der von dem Früh-Industriellen Henry Ford kommen soll: „Autos kaufen keine Autos.“

Grundsätzlich sind Produktivitätszuwächse – also die Produktion der gleichen Menge mit weniger Ressourcen – zu begrüßen, weil sie gesamtgesellschaftlich höheren Wohlstand ermöglichen. Allerdings kann eine sprunghafte Entwicklung, so die Berater, „hochgradig disruptiv“ sein und mindestens zunächst „schwere Folgen“ für die Beschäftigung haben.

Angesichts der nackten Zahlenverhältnisse wäre das kein Wunder. Nach Daten von Bain dauerte es im Jahr 2010 noch etwa 5,3 Jahre, bis sich die Investition in einen Roboter als Ersatz für einen menschlichen Fabrikarbeiter bezahlt machte. Mittlerweile dauere das nur noch 1,5 Jahre, und bis Ende dieses Jahrzehnts könne die Investition schon nach weniger als einem Jahr wieder hereingeholt sein.

Hinzu kommen Hilfsroboter, die menschliche Arbeitskräfte nicht ersetzen, sondern unterstützen. Diese seien in jedem Industrieland und den meisten Schwellenländern schon heute billiger einzusetzen als Menschen. Gleichzeitig werden die Maschinen immer geschickter – die Berater rechnen deshalb mit der „Automatisierung vieler Aufgaben in Restaurant-Küchen und Bars“. Ebenso seien viele Büro-Tätigkeiten „überraschend leicht zu automatisieren“, ähnlich wie viele heute gut bezahlte Finanzdienstleistungen.

Welche Folgen innerhalb und zwischen Ländern und Blöcken das haben wird, hängt nach der Analyse der Berater stark vom Tempo der Entwicklung ab. Wenn sie langsam vor sich gehe, bestehe für Arbeitnehmer, Unternehmen und Gesellschaften eher die Möglichkeit, sich allmählich anzupassen. Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft in den USA etwa sei so langsam erfolgt, dass kaum jemand umlernen oder den Job wechseln musste. Stattdessen hätten Personen, die neu auf den Arbeitsmarkt kamen, eben die neuen Stellen besetzt – und die alten Landwirtschaftsarbeiter seien bis zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben in ihren Berufen geblieben.

Allerdings gehen die Berater davon aus, dass der neue Wandel eher schneller erfolgen und somit zu deutlich schwereren Verwerfungen führen wird. Eine der kritischsten Folgen davon sei zunehmende Ungleichheit – nicht nur ein gesellschaftliche Problem, sondern auch ein wirtschaftliches, weil Menschen ohne oder mit schlecht bezahlten Jobs keine Nachfrage bringen.

Letztlich könnte das dazu führen, dass der jahrzehntelange Trend zum Rückzug von Regierungen aus der Wirtschaft sich umkehrt: Staaten könnten das Tempo der Automatisierung mit Gesetzen verlangsamen, mit Investitionsprogrammen für Nachfrage sorgen oder ein festes Grundeinkommen für abgehängte Arbeitnehmer einführen. In diesem Zusammenhang allerdings beunruhigend: Unter Millennials in Westeuropa und den USA zeigt sich bereits heute ein deutlich größerer Anteil als Freund autoritärer Regierungen als in früheren Generationen.

(sma)