Wettlauf zum künstlichen Blatt

Nathan Lewis und Daniel Nocera forschen um die Wette an einem "künstlichen Blatt", das nach Vorbild der natürlichen Photosynthese viele Energieprobleme lösen könnte.

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Wettlauf zum künstlichen Blatt

(Bild: "Leaf" / Andrew Magill / cc-by-2.0)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Varun Sivaram
Inhaltsverzeichnis

In diesem Auszug aus seinem neuen Buch beschreibt Physiker Varun Sivaram die jüngsten Fortschritte bei der Arbeit von Nocera und Lewis.

Nathan Lewis ist eine Rarität unter Forschern: Der Professor am California Institute of Technology kann komplexe Konzepte einprägsam verdichten. Wenn er etwa über die Zukunft der Photovoltaik spricht, lautet sein prägnanter Refrain: "Kein Speicher? Kein Strom nach 16 Uhr."

Als leitender Forscher des Joint Center for Artificial Photosynthesis, das von der US-Regierung finanziert wird, arbeitet er an einer Alternative: einem künstlichen Blatt. Es soll die besten Pflanzen übertreffen. Diese sind nämlich schrecklich ineffizient, wie schon ihre grüne Farbe verrät – Schwarz würde Sonnenstrahlen viel besser absorbieren. Selbst die effizientesten Pflanzen setzen gerade ein Prozent des Sonnenlichts in gespeicherte Energie um.

Trotzdem kann die Natur viel lehren. Die erste Lektion: Pflanzen spalten zunächst Wasser in zwei Halbreaktionen, von denen eine Wasserstoff, die andere Sauerstoff erzeugt. Zweitens nutzt die Pflanze Katalysatoren, um diese Halbreaktionen zu beschleunigen. Drittens separieren Pflanzen die beiden Halbreaktionen mit einer Membran, die zwar Wasserstoff und Sauerstoff trennt, Ionen aber passieren lässt. So verhindert die Evolution, dass Wasserstoff in Gegenwart von Sauerstoff spontan verbrennt.

TR 05/2018

Technology Review Mai 2018

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 05/2018 der Technology Review. Das Heft ist ab 19.04.2018 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Künstliche Blätter brauchen prinzipiell ähnliche Komponenten. Doch hier enden die Gemeinsamkeiten. Wie Lewis sagt: Inspiriert von gefiederten Vögeln, ließen Menschen die Federn fallen und erfanden die 747. Bei "Photoelektrochemischen Zellen" (PEC) dienen zwei ins Wasser getauchte Photoelektroden als Lichtabsorber. Bei künftigen Zellen werden wohl nicht beide grün sein, also um den gleichen Teil des Sonnenspektrums konkurrieren. Vielmehr wird die Anode (Sauerstoff) eher bläuliches Licht nutzen, die Kathode (Wasserstoff) hingegen rötliches.

Eine solche PEC muss billig, sicher, robust und effizient sein. Die Hürden liegen also hoch. Fangen wir mit der Sicherheitsmembran an: Die Wasserstoff-Halbreaktion macht das Wasser sauer, die Sauerstoff-Halbreaktion alkalisch. Forscher müssen also Materialien finden, die beide Milieus aushalten. Das schließt eine ganze Reihe preisgünstiger Werkstoffe aus.

Ähnliches gilt für die Effizienz. Sorgfältig ausgewählte Photoelektroden und Katalysatoren erreichen theoretisch über 30 Prozent Wirkungsgrad. Unter teuren Materialien besteht eine vielfältige Auswahl – unter preiswerten nicht. Lewis' interdisziplinäres Forscherteam setzt gewaltige Rechenleistung zur Suche nach Materialien ein, die alle vier Kriterien erfüllen. Systematisch simulierten sie Tausende von Verbindungen und testeten die vielversprechendsten Kandidaten im Labor.

Intuition und Glück spielen trotzdem noch eine wichtige Rolle. So stießen die Forscher in Raffinerien auf preiswerte Katalysatoren, die Schwefel aus Erdölprodukten entfernen. Diese konnten auch die Wasserstofferzeugung beschleunigen. (Nach einem Gegenstück für die Sauerstoffseite wird noch gesucht.) Und der Zufall kam zur Hilfe, als Forscher versehentlich Proben mit einer dünnen Schicht Titandioxid überzogen. Überrascht stellten sie fest, dass dies Elektroden und Katalysatoren in der alkalischen Lösung schützt.

Damit schaffte die Caltech-Gruppe den Durchbruch. 2015 kündigte sie einen Solar-Wasserstoffgenerator mit einem Wirkungsgrad von über zehn Prozent an. Das allein war nichts Besonderes – andere lagen bereits bei 22 Prozent. Aber das Caltech-Gerät nutzte preiswerte, reichlich verfügbare Katalysatoren und lief zwei Tage im Dauerbetrieb. Dies machte Hoffnung auf ein kommerziell nutzbares Produkt. Es wird allerdings keine große Ähnlichkeit mit einem Blatt haben. Lewis stellt es sich eher wie eine große Plane mit einem Rohrsystem vor.

Sein großer Konkurrent sitzt an der Ostküste. Daniel Nocera von der Harvard University kommuniziert Wissenschaft so geschickt, dass er zu einer Art Carl Sagan für solare Brennstoffe geworden ist. Isst sein Publikum etwa gerade Steak, fragt er: "Was kauen Sie da gerade? Die Sonne! Dieses Rindfleisch entstand aus der Energie des Sonnenlichts."

Lewis und Nocera verbindet ihr graues Haar, ihre Fähigkeit, ein breites Publikum zu erreichen, und sogar der gleiche Betreuer am Graduiertenkolleg. Doch ihre Ansätze beim künstlichen Blatt unterscheiden sich dramatisch, was zu temperamentvoller professioneller Rivalität führt. Lewis fokussiert sich wie ein Laser auf die Herstellung von Wasserstoff. Dieser kann direkt Fahrzeuge betreiben oder Elektrizität erzeugen. Kombiniert mit Kohlendioxid aus Fabrikschloten, lässt er sich mit etablierten industriellen Prozessen relativ einfach in eine breite Palette von nützlichen Kohlenwasserstoffen umwandeln, etwa Benzin.

Früher gab sich auch Nocera mit Wasserstoff zufrieden. 2011 fesselte er die wissenschaftliche Welt, indem er ein briefmarkengroßes Objekt in ein Glas Wasser warf. Sogleich stiegen Blasen aus Wasserstoff und Sauerstoff auf – ein Produkt von 30 Jahren Forschung. Nun wollte Nocera es auf den Markt bringen. Leider lernte er dabei die gleiche Lektion wie fast alle Silicon-Valley-Start-ups für saubere Energie: Der wirklich schwierige Teil kommt erst nach einer aufregenden Laborentdeckung.

Später sollte er klagen: "Ich habe einen Heiligen Gral der Wissenschaft gefunden. Toll! Das bedeutet aber noch nicht, dass ich auch einen Heiligen Gral der Technologie gefunden hätte. Diesen Unterschied verstehen Wissenschaftler und Professoren nicht." Sein Start-up Sun Catalytix wandte sich schließlich von der Solarenergie ab und entwickelte stattdessen Batterien für das Stromnetz. 2014 übernahm Lockheed das Unternehmen für eine nicht genannte Summe.

Diese Erfahrung hat ihn nicht davon abgehalten, weiterhin einem Heiligen Gral hinterherzujagen. Sein neues Ziel ist es, das Zwischenprodukt Wasserstoff zu überspringen und direkt flüssige Kohlenwasserstoffe zu erzeugen, die Erdölprodukte eins zu eins ersetzen können. Dies hätte den Vorteil, dass es dafür bereits enorme globale Infrastrukturnetze gibt – transkontinentale Pipelines, Supertanker und Tankstellen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Aufgabe allerdings nahezu unlösbar. Wasser zu spalten ist bereits schwierig genug. Doch schon die Erzeugung des einfachsten Kohlenwasserstoffs Methan ist eine ungleich komplexere Übung. Voraussetzung wäre die Entdeckung neuer Lichtabsorber und Katalysatoren. Entsprechend weit entfernt ist eine kommerzielle Anwendung.

Nichtsdestotrotz gelangen Nocera in den letzten drei Jahren eine Reihe unglaublicher Durchbrüche. Der erste war eine konzeptionelle Verschiebung: Warum nicht, anstatt die natürliche Photosynthese übertreffen zu wollen, die Natur für unsere Zwecke einspannen? 2015 konstruierte er ein Gerät, das Wasser zunächst – wie bei den anderen Ansätzen – mit einem anorganischen Katalysator spaltet. Der Wasserstoff wandert dann jedoch gemeinsam mit reinem Kohlendioxid zu gentechnisch veränderten Bakterien, die daraus flüssige Brennstoffe erzeugen.

Die Bakterien machten ihren Job großartig – allerdings vertrugen sie sich nicht mit dem Katalysator. Denn dieser produzierte Formen reaktiven Sauerstoffs, der ihre DNA zerstörte. Ein Jahr später präsentierten Nocera und seine Kollegen im renommierten Fachmagazin "Science" einen neuen Katalysator aus einer Kobalt-Phosphor-Legierung, der die Bakterien unversehrt ließ. Insgesamt erzielte das Gerät zehn Prozent Wirkungsgrad bei der Erzeugung alkoholbasierter Brennstoffe. Laut Nocera können die Mikroben auch andere Kohlenwasserstoffe herstellen. 2017 setzte er noch eins drauf, indem sein Team demonstrierte, dass sein Ansatz gleichzeitig auch noch Ammoniak aus dem Stickstoff in der Atmosphäre herstellen kann. Das ist eine verlockende Alternative zur Herstellung von Stickstoffdünger, die heute mehr als ein Prozent des weltweiten Energieverbrauchs verursacht.

Ob die Nutzung von Bakterien eine gute Idee ist, ist allerdings noch offen – sie reagieren recht zimperlich auf ihre Umgebung. Bisher scheinen die Chancen, mit Sonnenlicht zunächst Wasserstoff zu produzieren, deutlich besser zu stehen.

Auszug aus "Taming the Sun: Innovations to Harness Solar Energy and Power the Planet" von Varun Sivaram, herausgegeben von MIT Press. © 2018 Massachusetts Institute of Technology

(bsc)