Die Piraten des Wissens

Für den französischen Wissenschaftsphilosophen Michel Serres ist es kein Verbrechen, Wissen zu stehlen.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Frank Hartmann
  • Bernhard Rieder

Der bekannte französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres lehrt an der Sorbonne und in Stanford und hat sich bereits in den 60er Jahren mit Netzwerken, Kommunikation und Austausch beschäftigt. Schon vor den Zeiten des Internet galt für ihn aus der Perspektive seiner mathematisch begründeten Theorie der Netze das klassische Übertragungsmodell, das Kommunikation als "Austausch" zwischen zwei unabhängigen Polen darstellt, als Sonderfall, der in der Wirklichkeit kaum zu finden ist. Der Realität entspricht viel eher ein zumindest dreidimensionales Netzwerk, in dem jeder Knoten notwendigerweise mit vielen anderen in Verbindung steht.

Bei aller Kritik ist für Serres die Informationsgesellschaft eine Utopie. Die neuen Informationstechnologien haben bereits die "Wissenskluft" verkleinert. Insgesamt wird die Informationsgesellschaft für Serres eine pädagogische Gesellschaft neuer Art sein müssen, um der neuen Ordnung des Netzwerks entsprechen zu können – die Monopolisierung des Wissens kann nicht aufrechterhalten werden. Die dritte Welt wird sich nicht länger im Abseits halten lassen, meint Serres. Auch werde die Zirkulation des Wissens durch Copyrights nicht zu bändigen sein. Das technische Potenzial provoziert immer auch seine uneingeschränkte Nutzung – und sei es durch Piraterie. Schließlich beschützt Götterbote Hermes nicht zuletzt auch die Diebe. So hat das globale Netzwerk des Wissens die Tendenz, die sozialen und politischen Ungleichheiten in der Verteilung von Wissen aufzuheben. Ein Modell für alternative Kommunikation sieht Serres im historischen Beispiel der von Frauen geführten Pariser Salons. Dort wurden weder Monologe noch Dialoge geduldet, sondern allein die umfassende Konversation.

Was die Zukunft angeht, so ist Serres optimistisch, wie er in einem Interview mit Telepolis verrät: "Sie müssen keine Angst haben, wenn die pessimistischen Philosophen Ihnen heute sagen: Ah, mit der Einführung dieser und jener neuen Technologie wird der Mensch diese und jene Fähigkeiten verlieren. Antworten Sie ihnen mit 'Nein'! Denn im präziseren Sinn ist die Befreiung von der erdrückenden Pflicht, diese oder jene Sache tun zu müssen, ein Gewinn. Wir haben wieder Platz, wahrscheinlich sogar freien Platz in den Synapsen des Gehirns, der für gänzlich neue Funktionen zur Verfügung steht, transzendentere als die früheren. Ich glaube – und daher rührt mein Optimismus –, dass jedes Mal, wenn wir eine kognitive Funktion freisetzen, eine neue auftritt, die sich mit der alten gar nicht mehr messen lässt. Das ist außergewöhnlich, denn noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte ist unser Kopf so befreit gewesen. So befreit für die Entdeckung von Neuem. Niemals."

Zu den derzeit stattfindenden Kämpfen um die Sicherung des geistigen Eigentums bezieht Serres eine radikale Haltung: "Es wird vielleicht der Moment kommen, da die dritte Welt eine Piratenflagge hisst. Und auch das wäre eine gute Sache. In meinen Augen ist es niemals ein Verbrechen, Wissen zu stehlen. Es ist ein guter Diebstahl... Der Pirat des Wissens ist ein guter Pirat. Wenn ich noch einmal jung wäre, dann würde ich ein Schiff bauen, das so hieße: Pirat des Wissens. Was in der Wissenschaft derzeit schlimm ist, ist dass die Firmen ihr Wissen kaufen und es deshalb geheim halten wollen. Und deshalb werden die Piraten morgen diejenigen sein, die im Recht sind."

Das vollständige Interview mit Michel Serres in Telepolis: "Der Pirat des Wissens ist ein guter Pirat". (Frank Hartmann und Bernhard Rieder) / (fr)