Programmieren wie Mutter Natur

Erbgut ist ein natürlicher Chip, aber mit einer vielfach höheren Rechenkapazität. Nun haben Forscher es geschafft, ihm maschinelles Lernen einzuprogrammieren. Besteht die nächste Computergeneration aus DNA?

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Programmieren wie Mutter Natur

(Bild: Shutterstock)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Christian Honey
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Die Speicherkapazität des Erbmoleküls DNA ist astronomisch: Bis zu 455 Exabyte (Milliarden Gigabyte) kann man laut einer Harvard-Studie aus dem Jahr 2012 in einem Gramm unterbringen. DNA hat aber noch weit mehr zu bieten. Aus den Interaktionen von DNA-Strängen lassen sich chemische Schaltkreise bauen, mit denen sich prinzipiell alle denkbaren Programme ausführen ließen. Im Juli 2018 berichtete Lulu Qian vom California Institute of Technology, dass sie ein neuronales Netz implementiert hatte. Es konnte handgeschriebene Ziffern aus 10x10 Pixeln korrekt klassifizieren – eine Leistung, die an jene der ersten tiefen neuronalen Netzwerke heranreicht. Ist DNA also der Baustein einer neuen, mächtigen Generation von Computern?

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Schon Anfang der 1990er-Jahre argumentierte Leonard Adleman von der University of Southern California, man könne mathematisch-logische Probleme womöglich mit den Werkzeugen der Molekularbiologie lösen. Zum Beispiel das Hamiltonkreisproblem: Gibt es Pfade durch ein Netzwerk gerichteter Pfade, zum Beispiel ein Straßennetz, die alle Knoten (Kreuzungen) exakt einmal besuchen? 1994 zeigte Adleman, dass man diese Hamiltonschen Pfade von einer DNA-Suppe "berechnen" lassen kann. Für jede Straße stellte er spezifische DNA-Stränge her, die sich an jeweils einen zweiten binden konnten, wie zwei Straßen, die sich an einer Kreuzung treffen. Tatsächlich lagerten sich die Millionen DNA-Stränge zu allen möglichen Pfaden durch das Netzwerk zusammen, inklusive der Hamiltonschen. Und die können leicht aus der Suppe gefiltert werden.

"Die Hoffnung war damals, dass große Mengen DNA-Stränge in Reagenzgläsern derartige Probleme effizienter lösen könnten als Computer", sagt Erik Winfree, Professor für Informatik am California Institute of Technology und einer der weltweit führenden Köpfe des DNA-Computings. "Die Hoffnung erfüllte sich aber nicht." Was den DNA-Suppen damals gefehlt habe, war die Fähigkeit, eine Sequenz logischer Schritte durchzuführen, ohne dass ein Forscher biochemische Handgriffe ausführen musste. Dazu wären, wie bei Computern, programmierbare und skalierbare Schaltkreise erforderlich.

TR 10/2018

Technology Review Oktober 2018

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 10/2018 der Technology Review. Das Heft ist ab 13.09.2018 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Im Jahr 2011 stellten Erik Winfree und seine Kollegin Lulu Qian einen neuen Ansatz vor, der genau das ermöglicht. Dabei griffen sie auf eine natürliche Eigenschaft der Erbgutmoleküle zurück. Sie haben die Tendenz, perfekte Doppelstränge zu bilden. Ein passender Teilstrang ersetzt deshalb auf einem Doppelstrang immer einen schlechter passenden Teilstrang.

Winfree und Qian entwickelten nun DNA-Stränge, die diese Eigenschaft zweifach ausnutzten: Sie bestanden aus zwei aufeinanderfolgenden DNA-Sequenzen, von denen immer nur eine an einen Partnerstrang gebunden ist. Erst wenn die erste Sequenz von ihrem Doppelstrang gelöst wird, kann die zweite Sequenz aktiv werden und ihrerseits einen DNA-Strang ersetzen. Weil dieser Prozess umkehrbar ist, nannten Qian und Winfree ihre Schöpfung "Wippschalter". Jede DNA-Ersetzung entspricht einer logischen Wenn-dann-Operation, wie jene, die Transistoren auf einem elektronischen Prozessor ausführen. Prinzipiell also kann man aus DNA-Wippschaltern beliebige Schaltkreise aufbauen.

Qian und Winfree zeigten, dass sich damit Wurzeln aus Binärzahlen ziehen lassen. Als Input nutzten sie DNA-Stränge, die Binärzahlen repräsentierten und die Wippschalter-Ketten aktivierten. Die DNA-Teilstränge, die das Programm in der Suppe freisetzte, lasen die Forscher mittels einer Fluoreszenz-Reaktion aus. Wenige Monate später zeigten sie mit ihrem Caltech-Kollegen Jehoshua Bruck, dass sich auf diese Weise sogar Hopfield-Netzwerke schaffen lassen. Diese simplen neuronalen Netze merken sich einfache Input-Muster, etwa Binärzahlen der Form [0 1 1 0], wobei jede der Zahlen für den Aktivierungszustand eines Neurons steht. Aktiviert man ein gut trainiertes Hopfield-Netzwerk mit einem unvollständigen Muster wie [X 1 1 X], vervollständigt das Netzwerk das Muster.

"Das war ein spannender Nachweis für rudimentäres hirnähnliches Verhalten im Reagenzglas", sagt Qian. Damit war jedoch die bisherige Grenze der Methode erreicht. Für das Hopfield-Netzwerk waren 38 Wippschalter nötig. Für komplexere Netzwerke braucht man mehr. Ist ihre Zahl jedoch zu groß, verschwimmt das Output-Signal und lässt sich nicht mehr auslesen. Diese Grenze hat Qian nun zusammen mit ihrem Studenten Kevin Cherry überschritten. Der Trick: eine "Winner takes all"-Strategie. Die Output-Stränge inaktivieren sich gegenseitig, sodass am Ende nur einer übrig bleibt. So war jenes Netzwerk aus 132 Wippschaltern möglich, das handschriftliche Ziffern so gut klassifizieren konnte wie ein Mensch.

Sind wir damit auf dem Weg zum neuronalen DNA-Rechner? Eher nicht, denkt Winfree. "DNA-Suppen sind noch immer zu langsam und machen zu viele Fehler im Vergleich zu elektronischen Computern." Darüber hinaus lernen die neuronalen Netze die Muster, die sie erkennen, nicht selbst. Die nötigen Konzentrationsunterschiede der Wippschalter muss ein konventioneller Computer berechnen. Qian und Winfree haben aber auch nicht das Ziel, aus DNA einen Ersatz für elektronische Computer zu bauen. "DNA-Computing ist eine Vorlage für die molekulare Informationsverarbeitung", sagt Winfree. Beherrsche man die Grundlagen einmal, könne man sie in verschiedensten chemischen Systemen anwenden, etwa in der molekularen Diagnostik, in industriellen chemischen Prozessen und sogar in lebenden Zellen. "Sie könnten die molekularen Muster verschiedener Erkrankungen in Blutproben erkennen", sagt Qian. An entsprechenden neuronalen Netzen arbeiten die beiden Forscher bereits.

(bsc)