Flüchtlingslager auf Blockchain

Digitale Ausweise können Flüchtlingen helfen, sich schneller einzugliedern.

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Flüchtlingslager auf Blockchain

(Bild: Russ Juskalian)

Lesezeit: 9 Min.
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  • Russ Juskalian

Bassam schiebt einen Einkaufswagen durch einen Laden mit Reissäcken, frischem Gemüse und anderen Nahrungsmitteln. Sein schwarzes Sweatshirt hat er in die Jeans gesteckt, die ihrerseits in schlammverkrusteten Stiefeln steckt. An der Kasse bezahlt er nicht mit Bargeld oder Kreditkarte. Stattdessen blickt er in eine schwarze Box mit Spiegel und Kamera. Einen Moment später erscheint Bassams Auge auf dem Bildschirm der Kassiererin. Bassam steckt seine Quittung ein, auf der "EyePay" und "World Food Programme Building Blocks" stehen, und geht hinaus in das mittägliche Chaos.

Der Tazweed-Supermarkt liegt in der jordanischen Steppe am Rande des Zaatari-Flüchtlingslagers für 75000 Menschen, knapp zehn Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Obwohl Bassam es vielleicht nicht weiß: Sein Einkauf ist eine der ersten humanitären Anwendungen der Blockchain. Indem er seine Iris scannen lässt, bestätigt er anhand einer UN-Datenbank seine Identität und lässt gleichzeitig den Betrag von einem Familienkonto abbuchen, das das World Food Programme (WFP) auf einer Variante der Ethereum-Blockchain führt.

Das Anfang 2017 gestartete Programm "Building Blocks" unterstützt das WFP bei der Verteilung von Nahrungsmitteln an mehr als 100000 syrische Flüchtlinge in Jordanien. Bis Ende dieses Jahres will es alle 500000 Flüchtlinge im Land erfassen. Wenn es erfolgreich ist, könnte es die Einführung von Blockchain-Technologien bei den Vereinten Nationen und darüber hinaus beschleunigen.

Building Blocks entstand, um Geld zu sparen. Das WFP trägt zur Ernährung von 80 Millionen Menschen auf der ganzen Welt bei. Seit 2009 liefert es Nahrungsmittel aber bevorzugt nicht mehr direkt an Bedürftige aus, sondern überweist ihnen Geld, damit sie sich selbst etwas kaufen können. Dieser Ansatz soll mehr Menschen ernähren können, der lokalen Wirtschaft helfen und die Transparenz erhöhen. Er führt allerdings auch eine neue Schwachstelle ein: lokale und regionale Banken, die sich die Abwicklung gut bezahlen lassen.

Bei Leistungen von insgesamt 1,3 Milliarden Dollar (2017) hätte das WFP allein für die Gebühren Millionen von Mahlzeiten kaufen können. Die Blockchain führte zu einer Reduzierung dieser Gebühren um 98 Prozent. "Es ist ein großer Erfolg", sagt Houman Haddad, der Mann hinter dem Building-Blocks-Projekt. "Wenn wir jetzt einen Anruf bekommen, dass 20000 Menschen in der Nacht kommen, können wir morgens alles für sie bereit haben. Früher hätte es zwei Wochen gedauert und Papiergutscheine erfordert."

Wenn es nach ihm geht, ist das aber erst der Anfang. Er will mit der Blockchain ein zentrales Problem jeder humanitären Krise angehen: Wie bringt man Menschen ohne Papiere und Bankkonten in ein Finanz- und Rechtssystem, in dem beides Voraussetzung für einen Job und ein sicheres Leben ist?

Haddad träumt davon, dass Bassam eines Tages mit einer digitalen Brieftasche aus Zaatari herausmarschiert, die unter anderem Ausweise, Bildungsabschlüsse, familiäre Beziehungen, Rechnungen, Urkunden, Atteste und den Zugang zu allen Bankkonten enthält. Ein solches Wallet könnte sich auf einem Chip als Schlüsselanhänger, auf einer Kreditkarte oder auf einer sicheren Enklave des Smartphones befinden.

So könnten Flüchtlinge wie Bassam überall ihre rechtliche Identität nachweisen – auch wenn ihre Dokumente auf der Flucht verloren gegangen sind, der Staat ihre Ausweise für ungültig erklärt hat oder die Schule mit den Abschlusszeugnissen bombardiert wurde. Arbeitgeber könnten auf diese Weise das Gehalt einfacher überweisen, Banken die Kreditgeschichte ansehen, Einwanderungsbehörden die Identität überprüfen. Hätte Bassam ein digitales Wallet gehabt, bevor er seine Heimatstadt Daraa verlassen musste, wäre er vielleicht nie in Zaatari gelandet, sondern sofort ein produktives Mitglied der jordanischen Gesellschaft geworden.

Eine Reihe von Organisationen beschäftigen sich bereits mit dieser Idee. In Finnland etwa arbeitet ein Blockchain-Start-up namens Moni seit 2015 mit der finnischen Einwanderungsbehörde zusammen, um jedem Flüchtling eine Prepaid-MasterCard zu geben, verknüpft mit einer Identitätsnummer in der Blockchain. Auch ohne Pass können Flüchtlinge auf diese Weise über ein Moni-Konto Geld direkt von der Regierung bekommen. Das System erlaubt es den Flüchtlingen auch, Geld von vertrauten Menschen zu leihen und auf diese Weise eine rudimentäre Kreditgeschichte aufzubauen, um später einfacher an institutionelle Kredite zu kommen.

Die öffentlich-private Allianz ID2020, zu der sich Unternehmen wie Accenture und Microsoft mit gemeinnützigen Organisationen zusammengeschlossen haben, verfolgt ein ähnliches Ziel: Sie will den 1,1 Milliarden Menschen ohne Ausweis einen amtlichen Nachweis ihrer Identität geben. Im Zentrum steht das Konzept der "selbstverantwortlichen Identität", das der amerikanische Sicherheitsexperte Christopher Allen populär gemacht hat. Der Identitätsnachweis soll danach portabel und nicht an einen Staat oder eine zentrale Behörde gebunden sein.

Der Konsens wächst, dass im Mittelpunkt solcher Systeme eine Blockchain stehen sollte. Diese könnte, so Allen, bisher "unlösbare" Probleme lösen: Ein dort gespeicherter verschlüsselter Identifier könne die Authentifizierung von den persönlichen Daten trennen und diese so schützen. Zudem benötigten Blockchains keine zwischengeschalteten Dienstleister; und da sie dezentral organisiert sind, überleben sie Katastrophen eher als zentralisierte Datenbanken oder Archive.

Es wird eine Weile dauern, diese großen Visionen zu verwirklichen. Haddad begann bei den Building Blocks zunächst damit, für jede syrische Flüchtlingsfamilie in jordanischen Lagern ein Konto in der Blockchain anzulegen. Theoretisch müssten die Familien dann weder tagelang warten, bis die lokalen Banken das Geld überwiesen haben, noch den Banken Details ihrer Identität mitteilen, die korrupte Mitarbeiter missbrauchen könnten. Außerdem könnte das WFP, statt das Geld vorab auszuzahlen, nur die tatsächlichen Einkäufe begleichen. Dies ist wichtig, denn mehr als 30 Prozent der UN-Hilfe gehen durch Korruption verloren.

In einem früheren Test in Pakistan waren die Transaktionen jedoch langsam und die Gebühren zu hoch. Eine Ursache dafür, befand Haddad, war die Verwendung der öffentlichen Ethereum-Blockchain. Die aktuelle Version von Building Blocks in Jordanien läuft jetzt auf einer "genehmigten" beziehungsweise "privaten" Version von Ethereum. Dort kann nicht mehr jeder dem Netzwerk beitreten und Transaktionen validieren. Stattdessen entscheidet eine zentrale Aufsicht, wer teilnehmen darf. Dadurch werden die Transaktionen schneller und billiger. Der Nachteil: Da das WFP die vollständige Kontrolle über das Netzwerk hat, kann es auch die Transaktionshistorie neu schreiben. Statt Banken aus der Gleichung herauszustreichen, ist das WFP nun im Prinzip selbst zu einer Bank geworden.

Da Building Blocks jedoch auf einer kleinen, privaten Blockchain läuft, sind Umfang und Wirkung des Projekts begrenzt. So begrenzt, dass einige Kritiker sagen, das Ganze sei nur ein Gimmick und das WFP könnte genauso gut eine traditionelle Datenbank verwenden. Haddad räumt ein: "Natürlich können wir alles, was wir heute tun, auch ohne Blockchain machen." Aber, fügt er hinzu: "Das Endziel ist eine digitale ID, welche die Leute selbst besitzen und kontrollieren."

Andere Kritiker finden es ethisch fragwürdig, neue Technologien zuerst an verletzlichen Bevölkerungsgruppen auszuprobieren. Schließlich sei die massenhafte Erfassung von Identitäten in der Vergangenheit eine Katastrophe für Menschen auf der Flucht gewesen – etwa beim Holocaust oder den jüngsten Vertreibungen der Rohingya in Myanmar, sagt Zara Rahman. Die Berliner Forscherin arbeitet bei der gemeinnützigen Organisation Engine Room, die soziale Organisationen bei der Nutzung von Technologie unterstützt. Letztlich stellt sich bei solchen Systemen immer die Frage, ob die Rechte an der digitalen ID tatsächlich bei den entsprechenden Personen liegen, oder ob es lediglich um einen bequemeren Weg für Unternehmen und Staaten geht, die digitale Existenz der Menschen zu kontrollieren.

Bassam und seine Mitflüchtlinge in Zaatari haben auf diese Entwicklungen derzeit wenig Einfluss. Sie brauchen das System, um essen zu können. Ob Blockchain oder nicht, ist für sie erst einmal nicht so wichtig. Bassam sagt, dass er Lebensmittel schon per Irisscan gekauft habe, bevor Building Blocks implementiert wurde. In diesem Fall wurde die Transaktion von einer normalen Bank abgewickelt. Und davor hatte er eine Karte zum Einscannen, doch die war oft abgenutzt, und es konnte Wochen dauern, bis sie ersetzt wurde. "Das neue System funktioniert besser", sagt er.

Ihre wirklichen Versprechen können Blockchains jedoch erst dann einlösen, wenn Organisationen wie das WFP und die UNO den Mut haben, zumindest Teile davon anderen Organisationen zu öffnen und dann den mutigsten Schritt von allen zu tun: Das Eigentum an den Daten an Menschen wie Bassam zu übergeben.

Building Blocks könnte dies theoretisch erreichen, wenn es sich nach der Vision von Haddad entwickelt. Zum Beispiel könnte das WFP seine Technologie zunächst als Buchhaltungstool für Lebensmitteleinkäufe anbieten und später Einträge für Landbesitz, Bildungsabschlüsse oder Reiseverlauf hinzufügen. Und wenn andere gemeinnützige Organisationen dem Blockchain-Netz ihre eigenen Knoten hinzufügen dürften, könnte es auch die Sicherheit einer öffentlichen Blockchain wiedergewinnen.

Ein Spaziergang durch das geschäftige Zaatari zeigt, welch harte Bewährungsprobe dies sein wird. Neben den beiden offiziellen Lebensmittelläden, die Zahlungen per Building Blocks annehmen, gibt es eine Vielzahl kleiner Schwarzmarkthändler, die alles von Nahrungsmitteln über Waschmaschinen bis zu alten Fahrrädern verkaufen. Wenn Building Blocks sich dort nicht etablieren kann, dann bleibt es – abgesehen davon, dass es die Arbeit des WFP etwas effizienter und transparenter macht – kaum mehr als eine zentrale Datenbank im Gewand einer dezentralen.

(bsc)