Die Cyber-Nanny

Die Neurowissenschaftlerin Vivienne Ming hat eine App entwickelt, die Eltern bei der Förderung ihrer Kinder helfen soll. Kann das funktionieren?

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Die Cyber-Nanny

Ming.

(Bild: "LightCityU" / Ted Eytan / cc-by-sa-2.0)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Eva Wolfangel

Oh Gott, noch ein Erziehungsratgeber. Und jetzt auch noch mit künstlicher Intelligenz, einer, der das Grundproblem jedes Ratgebers ins Technologische verschiebt: alles besser zu wissen und doch wenig zu verstehen vom einzelnen Kind und seinen Eltern. Kann nur schiefgehen? Kann, muss aber nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn eine KI individuell aus der Eltern-Kind-Beziehung lernt und an Typ und Situation angepasste Tipps für Aktivitäten gibt, die kognitive oder emotionale Entwicklungen fördern.

Was für viele wie eine unmenschliche Form der Kinderbetreuung aussieht, ist für Vivienne Ming der Weg in die Zukunft der Erziehung. "Glauben Sie es oder nicht", sagt die amerikanische Hirnforscherin. "Mein Sohn hat aktuell die Diagnose 'milden Autismus' bekommen – und schon vor der Diagnose hat unser System Vorschläge gemacht, die seine emotionale Resilienz stärken."

Sie ist bei autistischen Kindern wichtig, weil sie häufig Probleme damit haben, die eigenen Gefühle zu verstehen und zu regulieren sowie die Gefühle anderer zu deuten.

Wie vermutlich die meisten Eltern hat Ming, die gemeinsam mit ihrer Partnerin einen sechsjährigen Sohn und eine zehnjährige Tochter erzieht, sich gefragt, wie sie ihre Kinder zu glücklichen Menschen machen kann, denen eine tolle Zukunft blüht.

Doch im Gegensatz zu anderen Eltern vergrub die Hirnforscherin sich in die wissenschaftliche Literatur, um die Faktoren zu finden, die den späteren Erfolg eines Kindes ausmachen: von der Mentalität und Kreativität über unkonventionelles Denken bis hin zu Problemlösefähigkeiten und der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Insgesamt 50 Faktoren kamen zusammen. "Sie haben drei Dinge gemeinsam", erklärt Ming: "Sie sind messbar, sie haben einen direkten Zusammenhang mit langfristigen, positiven Auswirkungen, und – das ist das Wichtigste – sie sind veränderbar."

Dabei sind vor allem "die ersten fünf Jahre entscheidend", argumentiert Ming unter Verweis auf Forschungen des University College London, die bereits vor 25 Jahren begannen. Damals wurden unterprivilegierte Familien eine Stunde pro Woche von Pädagogen begleitet, die mit ihnen über Ernährung sprachen und ihnen kleine Spiele zeigten, die sie mit ihren Kindern spielen können.

2014 veröffentlichten Paul Gertler und Kollegen die Ergebnisse der Langzeitbeobachtung. "Die Stimulation steigerte das Durchschnittseinkommen der Teilnehmer um 42 Prozent", so die Autoren der Studie. "Diese Ergebnisse zeigen, dass psychosoziale Stimulation in der frühen Kindheit (...) die Ungleichheit im späteren Leben verringern kann."

Mings Antwort darauf ist Muse. Die App ist von außen gesehen denkbar einfach. Zu Beginn werden lediglich Name und Geburtsdatum des Kindes abgefragt – nicht das Geschlecht und erst recht keine subjektiven Einschätzungen der Eltern. Anschließend stellt die App eine Frage. Wer unbedingt will, kann ihr bis zu zwei weitere aus den Rippen leiern: "Arbeitest du außer Haus?" oder "Liest du mit deinem Kind?".

Bei größeren Kindern kann die Frage auch lauten: "Kann es selbst lesen?". Dann folgen die Option "Teste eine Aktivität" und die Frage, wie die Aufgabe beim Kind angekommen ist, ob sie zu leicht oder zu schwer war. Jeden Tag folgen genau eine weitere Frage und ein Vorschlag: "Warst du mit deinem Kind schon mal in der Bücherei?". Und als Empfehlung für eine gemeinsame Aktivität beispielsweise: "Frage dein Kind nach dem Vorlesen, wie sich die anderen Charaktere der Geschichte fühlen, wie deren Perspektive ist."

Aus dem Feedback lernt der Algorithmus. Im Hintergrund ordnet das System die Erkenntnisse den 50 Fähigkeiten und Faktoren zu, die Ming identifiziert hat, und berechnet, ob diese ausreichend vorhanden sind oder gestärkt werden müssen. Daraus erzeugt das System Empfehlungen für Aktivitäten mit dem Kind. Was aus gutem Grund nicht möglich ist: das eigene Kind mit anderen zu vergleichen oder Einblick zu bekommen, wie der Algorithmus die verschiedenen Fähigkeiten des Kindes einschätzt.

"Wir wollen schließlich die Beziehung stärken und keinen Wettbewerb ausrufen", sagt Ming. Sie selbst habe nicht einmal bei ihren eigenen Kindern nachgeschaut, wie sie im Vergleich zu anderen dastehen – obwohl sie den Zugang zu den Daten hat. "Das Geheimnis hinter Muse ist: Wir wollen nicht deine Kinder ändern, wir wollen dich ändern", sagt Ming. Die App nehme Eltern "den Stress und die kognitive Last", sich täglich neue Aktivitäten zu überlegen.

Dennoch ist es kaum verwunderlich, dass die Idee nicht jeden überzeugt. Fabienne Becker-Stoll, Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München, warnt geradezu davor. "Solche Ansätze sind Unsinn, wir sollten Eltern auf keinen Fall mit zusätzlichen Abhak-Aufgaben stressen", sagt sie. Die wichtigste Grundlage für die kindliche Entwicklung sei schließlich eine liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind. "Stellen Sie sich ein Date vor: Der Mann schaut auf das Handy in eine Beziehungsratgeber-App, um alles richtig zu machen", sagt Becker-Stoll.

"Als Sie kommen, steht er auf und umarmt Sie. Dann liest er noch mal nach, ob er es auch richtig gemacht hat, und sieht: dort steht ,liebevoll umarmen', und er wiederholt die Umarmung." Das fühle sich wohl kaum wie echte Emotion an. Dass ausgerechnet eine Handy-App die Eltern-Kind-Beziehung verbessern soll, empört sie: "Wir arbeiten hart daran, die Eltern so weit herunterzubekommen, dass sie entspannte Zeit mit ihrem Kind verbringen können."

Wichtig dafür sei die Fähigkeit, sich einzufühlen und offen zu sein für die Signale des Kindes. Der ständige Blick aufs Handy führe genau zum Gegenteil. Dabei kann man Ming eigentlich nicht vorwerfen, Eltern in den Bann einer App schlagen zu wollen. Es wird immer genau eine Aktivität vorgeschlagen, und diese Aktivität führt direkt weg vom Smartphone hin zum Kind. Erst wenn diese Aktivität absolviert ist, kann man Muse weiter nutzen.

Aber funktioniert das auch wie gedacht? Ich probiere es an meinen drei Kindern aus. Die Empfehlung für den Vierjährigen und die Sechsjährige lautet gleichermaßen: "Zeige deinem Kind einen Schal und frage es, was das sonst sein könnte (ein fliegender Teppich, ein Umhang etc.)". Doch obwohl die Stichwörter unter der Aktivität verraten, dass Fantasie und Vorstellungskraft sowie innovatives und problemlösendes Denken geschult werden sollen, kommen Zweifel auf: Das Kind wird einen durchschauen. Es wird mit skeptischem Blick fragen: Mama, wo hast du das jetzt her? Wenn es spürt, dass die Zuwendung "nicht echt" ist – das wäre wie das Date, das eine Beziehungs-App steuert.

Bei meinem größten Kind hingegen schlägt mir die App vor, es heute Abend beim Kochen helfen und ein Rezept aufschreiben zu lassen. Das klingt gut, es schult zudem die Sprachentwicklung und die Kommunikationsfähigkeit, wie die App verrät. Vor allem aber passt es zu Mutter und Kind. Und es nimmt in der Tat die Last, ständig kreativ sein zu müssen, wenn das Kind mit einem genervten "Mir-ist-langweilig-und-die-Brüder-nerven"-Gesicht in der Küche auftaucht.

Wer also bei der Erziehung Kopf und Herz ausschaltet, wer die App als Bedienungsanleitung fürs Kind betrachtet, wird scheitern wie mit jedem anderen Ratgeber. Wer Muse aber als Unterstützung der eigenen Kreativität versteht, kann profitieren. Das wird nur jenen Eltern nicht helfen, denen jede Intuition für ihr Kind fehlt.

(bsc)