Der Futurist: Rolle rückwärts

Was wäre, wenn wir den Krebs besiegt hätten?

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Der Futurist: Rolle rückwärts
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Jens Lubbadeh

"Schschtt! Ruhe!" Was wollte der Typ, fragte sich David Demain. Er saß im "Joy", seiner Lieblingskneipe, und sah gerade Bayern gegen Real. Es war Halbzeitpause, Bayern führte 2:0, die Leute waren gut drauf. Wen interessierten die Nachrichten?

"Jetzt haltet doch mal die Klappe!"

Jemand drehte den Ton lauter.

"...hat die WHO heute Nachmittag verkündet, dass Krebs offiziell als besiegt gilt."

Das Stimmengewirr ebbte ab. Was hatte der gerade gesagt?

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Der Nachrichtensprecher blickte auf seinen Zettel und schien selbst verdutzt. Er drückte auf sein Ohr, wahrscheinlich bekam er Nachricht von der Regie. "Ich wiederhole noch einmal: Wissenschaftler haben eine Heilung gegen jeden Krebs entwickelt."

Er grinste. "Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich brauche jetzt eine Zigarette." Sprach's – und steckte sich vor laufender Kamera eine an.

Jubel im "Joy". Zigarettenschachteln flogen durch die Gegend.

Davids Kumpel Andi, der vor den Nachrichten pflichtschuldig zum Rauchen vor die Tür gegangen war, kam wieder. Und traute seinen Augen nicht. Niemand scherte sich um das Rauchverbot.

"Was ist denn hier los?", fragte er, aber David war zu beschäftigt, den Qualm tief in seine Lungen zu saugen. Er hatte vor fünfzehn Jahren aufgehört, jetzt schwor er sich, wieder anzufangen.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum betonte zwar, dass Rauchen auch noch viele andere Krankheiten auslösen konnte. Vergeblich. Die Rauchverbote fielen schneller, als dass man sich eine Neue anstecken konnte. Politiker riefen dazu auf, lieber wieder Zigaretten statt E-Zigaretten zu rauchen – die Akkus könnten explodieren.

Überall gab es nun Guilty-Pleasure-Parties. "Come to where the flavor is", "Der Geschmack der großen weiten Welt", "Liberté toujours", "Don't be a Maybe" – es waren rauschhafte vernebelte Feste, gesponsert von Big Tobacco. Die Aktien von British American Tobacco oder Philip Morris stiegen und stiegen, genauso wie die Aktien des Pharmakonzerns Roche, der die neue T-Zell-Therapie gegen Krebs entwickelt hatte.

Andi hatte zwar schnell reagiert und Anteilsscheine gekauft, aber er war nicht schnell genug gewesen, um noch damit reich zu werden. David hingegen versuchte langfristig zu denken. Wem half es noch, dass Krebs nur noch so gefährlich war wie ein Schnupfen? Alkohol, Fast Food, Acrylamid, Dieselabgase, Fleisch – die Menschen fühlten sich unverwundbar. Im Kopf ging er die Liste möglicher Branchen durch, in die man eventuell investieren konnte. Dabei sah er aus dem Fenster und sah die Fahne des FC Bayern im Wind flattern.

Wind. Windräder. Natürlich!

David schmiss alle Solar- und Windkraftaktien raus und investierte seine gesamten Ersparnisse in Rosatom, Framatome, Kazatomprom, General Atomics und noch viele weitere Firmen, die Atomreaktoren bauten oder im Uranabbau tätig waren.

Nach nur einer Woche hatte sich sein Depotwert verdoppelt, nach einem Jahr versiebenfacht. Aber es war nicht nur das Geld, das ihn freute: Endlich gab es Hoffnung, den Klimawandel zu bremsen. Die Welt war ein ganzes Stück besser geworden. Und er hatte seinen Beitrag dazu geleistet. Da war bestimmt noch mehr drin, dachte David, steckte sich eine Zigarette an und rief Andi an.

"Andi, hast du Lust zu kündigen?"

Lachen am anderen Ende. Dann Husten. Andi übertrieb es etwas mit dem Rauchen. "Reichen unsere Aktiengewinne etwa bis zur Rente?"

"Wie wär's, wenn wir sie in ein Start-up investieren? Stell dir vor, wir produzieren einen Wunderstoff, der Feuer und Säure aushält, sehr reißfest ist und zudem noch spottbillig und im Überfluss vorhanden ist."

"Aha, und den gibt es?"

"Ja. Er heißt Asbest."

(jlu)