Nur gucken reicht nicht!

Bildschirme statt Bücher: Die meisten Bundesländer bereiten inzwischen das digitalisierte Klassenzimmer vor. Dabei mehren sich die Warnungen, dass beim Lernen die virtuelle Welt die physische nicht ersetzen kann.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Nur gucken reicht nicht!

Hersteller Apple will iPads in die Schule bringen – und wirbt in Videos vehement dafür (oben).

(Bild: Foto: Apple)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Nike Heinen

Das Foto ist großartig. Wäre es ein echtes Klassenzimmer am Tag der offenen Tür, die Schule könnte sich wohl vor neuen Anmeldungen kaum retten. Da steht ein Mädchen ganz versunken vor einem Modell des Sonnensystems und sucht die richtige Position für die Erde. Obwohl das gute alte Steckmodell aus bunt bemalten Styroporkugeln physisch noch da und nur eine Armlänge entfernt ist, macht das Mädchen die Justiererei nicht von Hand. Zwischen sich und das Modell hält es ein iPad mit einem Modell des Modells. Auf dem Bildschirm wird die virtuelle Erde prüfend hin- und hergeschoben.

Was muss sich der Lehrer über diese App freuen. So geht es viel schneller, als eine Kugel von Hand festzustecken. Hinterher muss niemand kribbelige Zwölfjährige zum Aufräumen zwingen. Und die Kinder sind ohnehin sofort dabei, wenn ein Bildschirm ins Spiel kommt. Das Foto ist Teil von Apples großer Bildungsoffensive. Mit neuen iPads und einem ganzen Strauß neuer Apps will der Konzern nun endgültig die Schulen erobern. Unter dem Menü Bildung ist auf der Internetseite nicht nur das Mädchen zu sehen, dort erfährt man auch, worauf es dem Konzern ankommt. „Jedes Kind ist voller Kreativität geboren“, schreiben sie. „Seit 40 Jahren unterstützt Apple Lehrer dabei, das kreative Potenzial eines Schülers freizusetzen.“

Schöne Worte. Und irgendwie überflüssig. Viele Kultusminister sind ohnehin längst überzeugt, dass die neuen Wischbildschirme die verstaubten Bücher in den Klassenzimmern ersetzen sollten. In Baden-Württemberg werden sie gerade an 18 Gymnasien erprobt. Die „Tabletschulen“ sind nur eine Vorhut, ein Testlauf für die große, zweite Digitalisierungswelle. Bildungspolitiker in Schweden sind schon einen Schritt weiter: Nach den Schulen werden dort seit vergangenem Jahr die Kindergärten digitalisiert: iPads für die Zwerge ab zwei statt Papier und Fingerfarbe. Die schwedische Regierung nennt ihr Programm „Digitale Alphabetisierung“: Die Politiker dort argumentieren, dass die Kinder am besten mit digitalen Mitteln auf unsere heutige digitale Welt vorbereitet werden.

„Ich war entsetzt, als ich das gehört habe“, sagt Hugo Lagercrantz. „Eine Kindheit ohne dreckige Finger, ohne Papier, ohne Bücher!?“ Der emeritierte Kinderarzt vom Stockholmer Karolinska Institutet, der größten medizinischen Hochschule des Landes, hat sein wissenschaftliches Leben Kindern gewidmet, die durch die Umstände ihrer Geburt beeinträchtigt sind. Er ist ein Spezialist für die Entwicklung des Gehirns, für die frühen Verknüpfungen unseres Geistes, was sie ermöglicht, was sie behindert. Er kann mit einem Blick auf Bilder kleiner Gehirne erklären, warum sich Frühchen im späteren Leben schlechter konzentrieren können, warum sie oft fahrig wirken und planlos. Jetzt fürchtet er, dass sich eine ganze Generation normal geborener Kinder ähnlich entwickeln könnte. „Bei Kindern, die viel vor Bildschirmen sitzen, werden ähnliche Phänomene von geistiger Zerstreutheit beschrieben“, sagt er. „Außerdem lernen sie schlechter. Je kleiner die Kinder, desto schädlicher sind diese Geräte. Unsere Datenbanken sind voll mit solchen Studien.“

(rot)