Im Gehirn des Wählers

Experten behaupten, unbewusste politische Präferenzen besser erahnen zu können als die Wähler selbst. Nun wollen sie ihre Tricks zur Wahlwerbung einsetzen.

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Im Gehirn des Wählers

(Bild: Foto: Bruce Peterson)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Elizabeth Svoboda

Maria Pocovi schiebt ihren Laptop zu mir rüber. Über die Webcam sehe ich mein eigenes Gesicht, überlagert von weißen Gitterlinien. Daneben sechs Balken: Glück, Überraschung, Ekel, Angst, Wut und Trauer. Ändert sich mein Ausdruck, bewegen sich die Balken, als wären meine Gefühle ein Audiosignal. Nach einigen Sekunden blinkt ein kräftiges grünes Wort auf: Sorge.

Pocovi ist Gründerin des Emotion Research Lab (ERL) im spanischen Valencia. Ihre Software steht an der Spitze einer stillen politischen Revolution: Kampagnen auf der ganzen Welt beauftragen das ERL und ähnliche Dienstleister, um verborgene Gefühle der Wähler zu erforschen. Pocovi selbst hat bereits für große Parteien in Lateinamerika gearbeitet. Insider sagen, dass immer mehr Kampagnen solche Werkzeuge nutzen – auch wenn sie es ungern zugeben.

Mit von der Partie soll auch SCL sein, die Muttergesellschaft des berüchtigten Unternehmens Cambridge Analytica. Die inzwischen geschlossene Datenfirma hatte versucht, anhand von Facebook-Posts die Empfänglichkeit von Menschen für politische Botschaften einzuschätzen – mit sehr zweifelhafter wissenschaftlicher Grundlage.

Die neuen „neuropolitischen“ Berater wollen einen großen Schritt weitergehen: Sie versprechen, die Gefühle der Wähler direkt aus ihren spontanen Reaktionen heraus zu ermitteln. Doch wie gut funktionieren sie? Können wir weiterhin darauf vertrauen, dass unsere politischen Entscheidungen wirklich unsere eigenen sind?

Neuroberater zitieren gern den Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman, der zwischen dem kognitiven „System 1“ und „System 2“ unterscheidet. System 1 arbeitet schnell und ohne bewusste Kontrolle. System 2 braucht länger und basiert auf rationalen Überlegungen. „Früher haben sich alle auf System 2 konzentriert“, sagt der polnische Psychologe Rafal Ohme, der sich seit zehn Jahren vor allem System 1 widmet.

Um spontane, ungefilterte Reaktionen auszulesen, griffen viele Neuromarketing-Pioniere in der Anfangszeit zu EEG-Hauben, die über Elektroden auf der Kopfhaut die Gehirnströme messen, während sich die Probanden Wahlvideos anschauen. „Eines der Dinge, die wir analysieren können, ist die Aufmerksamkeit“, sagt der Neurophysiologe Jaime Romano Micha aus Mexico City, dessen ehemalige Firma Neuropolitka ein führender Anbieter solcher Dienstleistungen war. Aktivitäten der sogenannten Formatio reticularis im Hirnstamm deuten darauf hin, wie sehr jemand bei der Sache ist. Ist die linke Großhirnrinde aktiv, arbeiten Menschen offenbar daran, eine politische Botschaft zu verstehen; ähnliche Aktivitäten auf der anderen Seite können zeigen, wann genau der Groschen fällt.

Mit solchen Erkenntnissen können Kampagnen ihre Botschaft feintunen, zum Beispiel, indem sie den fesselndsten Teil an den Anfang stellen oder alles herausschneiden, was die Aufmerksamkeit abschweifen lässt. Das EEG gebe allerdings nur „sehr allgemeine Informationen über den Entscheidungsprozess“, sagt Micha. Deshalb verfolgt er zusätzlich noch die Blicke der Probanden oder misst ihre Erregung mit Elektroden auf der Haut. Solche Methoden sind jedoch aufwendig und entsprechend teuer. Die Anbieter beschränken sich daher auf kleine Versuchsgruppen von einem Dutzend bis hundert Personen und übertragen die Ergebnisse auf Wähler mit ähnlichen demografischen Profilen.

Pocovis Ansatz erfordert hingegen lediglich Computer oder Smartphones mit Webcam. Freiwillige können sich online anmelden und Werbespots ansehen. Währenddessen extrahiert die Software laut Pocovi „sechs universelle Emotionen, 101 sekundäre Emotionen und acht Stimmungen“. Das ERL bietet auch einen Crowd-Service an, um einzelne Gesichter in einer Menschenmenge zu verfolgen. So lässt sich die Stimmung in einem Saal erfassen, während ein Kandidat spricht.

(grh)