Auslaufmodell Ausbildung?

Die duale Ausbildung in Deutschland gilt in den USA als Vorbild. Aber die Zweifel wachsen, ob das Modell mit dem technologischen Wandel Schritt halten kann.

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Auslaufmodell Ausbildung?

(Bild: Siemens)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Russ Juskalian

Bei Siemens in München programmiert eine Gruppe von Auszubildenden ein kleines Arbeitsmodell einer automatisierten Produktionslinie. Die künftigen Kfz-Mechatroniker können ihre Arbeit in überraschend gutem Englisch diskutieren, obwohl keiner von ihnen eine Universität besucht. Die meisten Auszubildenden kommen im Alter von 16 Jahren zu Siemens. Sie erhalten sogar ein kleines Gehalt und müssen keine Studiengebühren zahlen. Ihre amerikanischen Kollegen dagegen kostet ein Maschinenbaustudium mit Mechatronik-Schwerpunkt zwischen 25000 und 44000 Dollar im Jahr.

Weltweit gilt diese duale Ausbildung, in deren Genuss jährlich etwa 500.000 Menschen kommen, als zentral für den deutschen Wirtschaftserfolg. Im vorigen Jahr erzielte das Land einen Exportrekord von 1,279 Billionen Euro. Und zwar trotz hoher Lohnkosten, denn mit 309 Industrierobotern pro 10000 Arbeiter ist es das am stärksten automatisierte Land Europas. Amerikanische Politiker haben die deutsche Berufsausbildung daher als nachahmenswertes System bezeichnet. Die Präsidenten Barack Obama und Donald Trump haben beide in den Ausbau der Lehrlingsausbildung in den USA investiert.

Experten warnen jedoch davor, dass sich das deutsche System nur schwer an die technologische Entwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) und Robotik anpassen kann. Die Art der Berufsausbildung könnte einen Großteil der Belegschaft an Fähigkeiten binden, die schon bald veraltet sein würden.

"Deutschland hat gezeigt, dass es die Menschen für den heutigen Bedarf und den der nächsten zehn Jahre auf eine Reihe von Jobs vorbereiten kann", sagt Eric Hanushek, Wirtschaftswissenschaftler an der Stanford University. "Die Frage aber ist, ob die Menschen darauf vorbereitet sind, sich anzupassen, wenn sich die Wirtschaft verändert."

Ludger Wößmann, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität München, stimmt zu: "Ich denke, das deutsche Berufssystem ist wahrscheinlich nicht besonders gut für die kommenden Veränderungen gerüstet. Vor allem auf dem Feld von KI und Robotik können Menschen nicht für den Rest ihres Lebens auf sehr berufsspezifischen Fähigkeiten aufbauen. Das ist ein grundlegendes Problem jedes Berufssystems."

Auszubildende kosten den Arbeitgeber in Deutschland rund 18000 Euro im Jahr. "Die meisten Auszubildenden sind bereits produktiv, während sie lernen, und anschließend sofort einsatzbereit", sagt Friedrich Beißer, bei Siemens zuständig für die internationale Ausbildung. Die frischen Absolventen sind damit seltener arbeitslos. "Fast alle werden später von den Unternehmen eingestellt, in denen sie ihre Ausbildung absolviert haben", bestätigt Thomas Leubner, Leiter der Ausbildungsabteilung bei Siemens. Die Ausbildung gewährleistet einen stetigen Nachschub von Fachkräften mit genau den richtigen Fähigkeiten. Und die Absolventen sind auch loyal. In Asien, wo in der Regel viel gewechselt wird, liegt die Fluktuationsrate unter den von Siemens selbst ausgebildeten Mitarbeitern bei nur drei Prozent pro Jahr, schätzt Beißer. Sonst ist die Fluktuationsrate mehr als dreimal so hoch.

Doch wie lange gilt das noch? Eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Hanushek bestätigt zunächst zwar das Urteil der Siemens-Ausbilder. Die Aussicht betrieblich Ausgebildeter, sofort einen Job zu finden, lag um 12,9 Prozent höher als bei frischen Hochschulabsolventen. Doch in der Lebensmitte wandelt sich das Bild: Ihre Arbeitslosigkeit steige, während das Einkommen sinke. In ihren Vierzigern könnten die Fähigkeiten der ausgebildeten Fachkräfte bereits überholt sein und den Verbleib im Erwerbsleben erschweren.

Das Potenzial von Hochschulabsolventen, die sich mehr allgemeines Wissen sowie Fertigkeiten in analytischem Denken, Problemlösung und Organisation angeeignet haben, werde dagegen in einer KI-getriebenen Wirtschaft immer wertvoller.

Mit Wirtschaftsdaten aus den vergangenen Jahrzehnten stützen die US-Ökonomen Dirk Krueger und Krishna Kumar diese Beobachtung. Die 60er- und 70er-Jahre waren gekennzeichnet durch einen eher langsamen technischen Wandel. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Deutschland wuchs schneller als in den USA. In den Achtzigern und bis in die neunziger Jahre hinein kehrten sich die Zahlen jedoch um. Das Informationszeitalter erlebte seine Blütezeit, und US-Unternehmen führten neue Technologien viel schneller ein als ihre deutschen Konkurrenten.

In einer von einem langsamen Wandel geprägten Ära ist "die Berufsausbildung eine nützliche Sache, weil die Menschen erwarten können, diese Arbeit für den Rest ihres Lebens zu tun", sagt Krueger, Wirtschaftswissenschaftler von der University of Pennsylvania. "Aber in einer Wirtschaft, die sich schneller technologisch verändert, ist es vielleicht besser, die Arbeiter dafür zu schulen, Probleme zu lösen und sich nicht auf einen Job zu fixieren." Die traditionelle Sichtweise, dass man mit 16 etwas lernt und der Job sich in den nächsten 40 Jahren im Grunde nicht ändert, gilt nicht mehr. "Das Berufssystem wird sich drastisch anpassen müssen", sagt Krueger.

Die Nachteile wiegen umso schwerer, als Deutschland sich kaum um jene kümmert, deren Qualifikation wegzufallen droht. "Das deutsche System schneidet bei der beruflichen Weiterbildung auf Erwachsenenebene nicht besonders gut ab", sagt Kathleen Thelen, Politikwissenschaftlerin am Massachusetts Institute of Technology. Möglicherweise, weil eine solche Ausbildung teuer ist und niemand herausgefunden hat, wie man sowohl Unternehmen als auch erwachsene Arbeitnehmer erfolgreich zur Teilnahme bewegen kann. Außerdem seien die staatlichen Ausgaben für die Erwachsenenbildung in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren zurückgegangen.

Abschreiben würde Thelen das deutsche System dennoch nicht: Im Laufe der Jahrhunderte habe es "überlebt und sich massiven technologischen Veränderungen angepasst". Um den Herausforderungen des KI-getriebenen Jahrhunderts zu begegnen, sei zum Beispiel ein neuer Weg gefunden worden: das duale Studium, das sowohl einen Bachelor- oder Master-Abschluss als auch eine traditionelle Berufsausbildung vermittle. Nun müsste sich das Land noch mehr Mühe mit der Weiterbildung geben, dann könnte der industrielle Wandel klappen.

(bsc)