Das Internet rettet aussterbende Sprache
Die Sprache der Ureinwohner Sardiniens droht auszusterben. Deutsche Forscher richteten ein Web-Forum fĂĽr die versprengten Freunde des Sardischen ein.
Mit den alten, gewachsenen Dörfern verschwinden die alten, gewachsenen Sprachen. Die jungen Leute gehen in die Stadt, die Alten sterben aus. Manchmal bleibt niemand, um das kulturelle Wissen und die Sprache von ein paar Tausend Menschen aufzuzeichnen. Rettung könnte ausgerechnet die Globalisierungstechnologie schlechthin bringen: das Internet. Nur das weltweite Netz vermag die in alle Gegenden versprengten letzten Sprecher einer kleinen Sprache zusammenzuführen, betonte Guido Mensching, Professor für Romanistik an der Freien Universität Berlin.
Mensching beschäftigt sich mit dem Sardischen, der Sprache der Ureinwohner Sardiniens. Ihre Sprache ist vom Aussterben bedroht. Die Amtssprache, das Italienische, setzt sich auf der Mittelmeerinsel immer stärker durch. Und selbst wenn die Sardisch-Spezialisten zusammenkommen, um den Zustand ihres Forschungsobjekts zu erörtern, tun sie dies zumeist auf Italienisch.
Mensching sann darauf, ein Forum zu schaffen, wo die Sarden – auch wenn sie aus wirtschaftlichen Gründen längst auf dem italienischen Festland leben – ihre Sprache und Kultur pflegen können. 1994 stellte er die ersten sardischen Internetseiten Europas ins Netz. Die Resonanz war so groß, dass Mensching den Internetauftritt zu einem Forschungsprojekt ausgedehnt hat, das er an der FU in Kooperation mit dem Institut für Sprachliche Informationsverarbeitung der Universität Köln umsetzt. "Die Seiten im Netz sind eine Art virtuelles Dorf", meint Mensching. In den Foren kann sardisch diskutiert werden, die Sarden können aber auch selbst komplette Textbeiträge liefern.
Dadurch kommen unterschiedliche Textsorten des Sardischen zusammen: von juristischen Urkunden aus dem Mittelalter bis zu Sagen, Märchen und sogar Gedichten, die die sardischen Surfer selbst verfassen. Die Texte transportieren auch kulturelles Wissen, etwa in Rezepten der traditionellen sardischen Küche.
Doch das Internet leistet noch mehr. Das Sardische ist in seiner jahrhundertelangen Geschichte kaum geschrieben worden. Daher gibt es keine allgemein anerkannte Schriftsprache des Sardischen. Hinzu kommt, dass das Sardische in viele verschiedene Dialekte aufgespalten ist. Das Internet könnte hier ganz neue Chancen eröffnen. Bestimmte Teilgebiete der Sprache lassen sich erstmalig systematisch und großflächig erfassen. "Es ist sehr spannend zu beobachten, wie die Sarden im Netz schreiben. Die elektronisch archivierten Sprachdaten mit der spontanen Orthographie und Wortwahl schaffen eine neue Textbasis, die auch mit elektronischen Mitteln sehr genau untersucht werden kann", erklärt Mensching.
Auf Sardinien dominierte ab etwa 900 v. Chr. die Kultur der Phönizier, die hier siedelten. Dann kamen die Römer, die das Phönizische und andere, heute unbekannte Sprachen auf Sardinien verdrängten. Die Bauern und Hirten nahmen die lateinische Sprache an, aus der in insularer Abgeschiedenheit das Sardische entstand. Obgleich das Sardische die katalanische, spanische und italienische Herrschaft überdauert hat und sich bis heute erhalten konnte, entstand nie eine Schriftsprache. Die Grammatik des Sardischen wurde zwar bereits im frühen 19. Jahrhundert von Sprachforschern beschrieben, doch um zu einer Nationalsprache werden zu können, müssen Texte aus verschiedensten Bereichen – etwa Behörden, Kirche, Literatur – in dieser Sprache geschrieben werden. Eine Chance dafür hatte es im 19. Jahrhundert – wie übrigens in vielen kleineren Ländern Europas – auch für das Sardische gegeben.
Doch im Unterschied zu den Geburtshelfern der Nationalsprache etwa in Serbien oder Ungarn war die einzige Person, die die Herausbildung einer sardischen Schriftsprache durch die Nutzung in der Literatur vorantreiben konnte oder wollte, eine Frau: die Schriftstellerin Grazzia Deledda, die 1926 den Nobelpreis für Literatur bekam. 1891 schrieb sie in einem Brief: "Bald werde ich zwanzig sein. Mit dreißig will ich mein großes Ziel erreicht haben; aus mir selbst heraus eine Literatur zu schaffen, die rein und ausschließlich sardisch ist." Das Vorhaben misslang; die sardischen Zeitgenossen akzeptierten die schriftstellerische Arbeit einer Frau nicht und verweigerten die Hilfe beim Sammeln überlieferter Gedichte und Gesänge. Deledda gab schließlich auf und ging nach Rom, wo sie Romane auf Italienisch verfasste.
Vielleicht kann das Internet nun Deleddas Mission weiterführen. Jeder an seiner Sprache und Kultur interessierte Sarde kann etwas beitragen und muss nicht mehr auf sardische "Gebrüder Grimm" warten, die für ein ganzes Volk die Märchen und Legenden sammeln. (Doris Marszk) / (ts)