Der zweite Hype der Genmedizin

Die Medizin wird persönlich: Genprofile zeigen individuelle Krankheitsrisiken, und Unternehmen bieten an, gesunden Nachwuchs auszuwählen. Vom Fluch und Segen einer neuen Ära.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Der zweite Hype der Genmedizin

(Bild: Illustration: Sébastien Thibault)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Antonio Regalado
  • Inge Wünnenberg

Was macht man bloß mit diesem Erbgut? Gut 15 Jahre nach seiner ersten vollständigen Entschlüsselung ist die Antwort immer noch nicht so recht klar. Obwohl es heute günstige und schnelle Verfahren zur Sequenzierung gibt und eine Reihe von privaten Anbietern für die Genanalyse. Natürlich, seltene Erbkrankheiten, die nur auf eines oder einige wenige schadhafte Gene zurückgehen, lassen sich diagnostizieren und behandeln. Insbesondere bei seltenen Erkrankungen haben Mediziner große Erfolge erzielt, weitere Durchbrüche werden dank eines neuen Therapieansatzes folgen (Seite 76). Aber die eigentliche Hoffnung, mithilfe der Genforschung binnen Kurzem die erbbedingten Ursachen von Volkskrankheiten wie Diabetes oder Herzleiden zu finden, bewahrheitete sich nicht. Zu komplex ist deren genetischer Hintergrund.

Was also soll man tun? Wie wollen Forscher der Komplexität Herr werden? Mittlerweile glauben sie, die Antwort gefunden zu haben: mit genomweiten Assoziationsstudien. Sie schauen sich das gesamte Erbgut an und suchen nach Mustern, die etwa bei Herzpatienten auffällig häufig vorkommen. Hintergrund der Methode sind sogenannte Einzelnukleotid-Polymorphismen oder kurz SNP (Single Nucleotide Polymorphism). Dabei handelt es sich um einzelne Veränderungen in den DNA-Grundbausteinen, den Basenpaaren. Man kann sich das vorstellen wie einen langen Text, in dem einzelne Buchstaben fehlerhaft sind. Nach ihnen sucht beispielsweise der US-Genetiker Sekar Kathiresan, Leiter der Initiative für kardiovaskuläre Erkrankungen am Broad Institute im amerikanischen Cambridge. Er wertete rund 6,6 Millionen Stellen des menschlichen Genoms aus, um aus dem Muster auf das Risiko einer koronaren Herzkrankheit zu schließen. Aus den Daten erstellte er einen polygenen Risikowert – mit dem überraschenden Ergebnis, dass bis zu 25 Millionen Amerikaner das dreifache Risiko für eine Erkrankung der Herzkranzgefäße in sich tragen, selbst wenn sie noch keine Warnzeichen wie einen hohen Cholesterinspiegel entwickelt haben. Ihnen könnten Mediziner dann entweder frühzeitig therapeutische Maßnahmen anbieten oder die Chance geben, durch Änderungen im Lebensstil ihr Krankheitsrisiko zu senken. „Wir haben in Studien über die polygenen Risikowerte für diverse Krankheiten gesehen, dass sie Einsichten bereitstellen, die wir nicht aus bekannten traditionellen Risikofaktoren ableiten können“, unterstützen der Genetiker Ali Torkamani und der Kardiologe Eric Topol vom kalifornischen Scripps Research Translational Institute den Ansatz.

Aber noch sind die neuen Methoden nicht so gut, wie die Visionäre es gern hätten. Krebs kann als mahnendes Beispiel dienen, welche Folgen eine überambitionierte Früherkennung nach sich ziehen kann. Denn nirgendwo sonst in der Medizin sind die Bemühungen stärker, das Leiden früh zu erkennen – und gleichzeitig die Ernüchterung diesbezüglich größer. „Es stellt sich die Frage, ob wir Krebs entdecken, der klinisch relevant, invasiv, aggressiv und wahrscheinlich lebensbedrohlich ist – oder stoßen wir auf Tausende von Fällen, die nicht relevant sind und niemanden töten werden, aber alle möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen zeitigen werden“, sagt der New Yorker Onkologe und Pulitzer-Preisträger Siddhartha Mukherjee. Sein Kollege Vinay Prasad von der Oregon Health & Sciences University in Portland hält den Hype um die Direct-to-Consumer-Gentests von Unternehmen wie 23andMe sogar für gefährlich. Als Beispiel nennt er den Test auf das Brustkrebsgen BRCA. „Er berücksichtigt drei Mutationen, die unter der aschkenasisch-stämmigen, jüdischen Bevölkerung weitverbreitet sind. Dabei bleibt aber die in der Gesamtbevölkerung vielleicht häufigste BRCA-Mutation unberücksichtigt.“ Als Konsequenz befürchtet Prasad, dass eine Frau mit familiärer Brustkrebsbelastung den Test privater Anbieter nutzt, sich dann aber durch einen negativen Bescheid in falscher Sicherheit wiegt. Genau das ist auch die Gefahr, wenn die privaten Gentests Risikofaktoren aus den SNPs ableiten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie nicht alle nötigen SNPs analysieren. Schließlich sind sich nicht einmal Forscher einig, welche Punktmutationen wirklich aussagekräftig sind.

Die Fokus-Artikel im Einzelnen:

Seite 66 - Analyse: Zu Risiken und Nebenwirkungen der personalisierten Medizin

Seite 70 - Risikowerte: Das wirkliche Potenzial einer umstrittenen Methode

Seite 74 - Interview: Genom-Medizin und die Gefahr eines neuen Rassismus

Seite 76 - Therapien: Durchbruch bei seltenen Erkrankungen

Seite 78 - Kosten: Der Wert des Lebens

(inwu)