Was die Stimme über uns verrät

Welche Charakterzüge haben wir? Was fühlen wir, unter welchen Krankheiten leiden wir? Unsere Stimme und unsere Art zu sprechen enthüllen überraschend viel. Nun nutzen erste Unternehmen die Eingangstür in unser Innerstes.

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Was die Stimme über uns verrät

Max Little hat entdeckt, wie sich über Sprachaufnahmen das Nervenleiden Parkinson erkennen lässt – bevor es die Betroffenen selbst merken.

(Bild: Foto: Aston University)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Eva Wolfangel

Wer bin ich? Der Sprachcomputer von Precire soll es herausfinden und beginnt ein harmlos wirkendes Gespräch. Er ist außerordentlich neugierig. „Wie war Ihr letzter Urlaub?“, „Wie verläuft ein typischer Sonntag bei Ihnen?“ Ich bemühe mich, jede Frage recht ausführlich zu beantworten, denn ich weiß: Er will 15 Minuten Sprachmaterial von mir, um meinem künftigen Chef zu sagen, was für ein Typ ich bin.

Meinem künftigen Chef? Ich suche keinen Job, ich bin Freiberuflerin. Aber aus professionellem Interesse teste ich das Bewerbungsverfahren der Zukunft. Bevor Arbeitgeber neue Mitarbeiter einstellen, wollen sie möglichst genau wissen, auf wen sie sich einlassen. Ist die Bewerberin eher engagiert? Belastbar? Stur? Arbeitet sie effizient? Ist sie teamfähig? Verträgt sie Kritik? Um das zu erfahren, ist das Bewerbungsgespräch eine zu kurze und oberflächliche Gelegenheit. Es gerät allzu oft zum bloßen Schaulaufen, und wer sich gut verkaufen kann, ist klar im Vorteil.

Precire, ein deutsches Unternehmen aus Aachen, will unter die Oberfläche schauen. Manche sagen auch: Es geht unter die Haut. Denn das Versprechen ist so groß wie unheimlich. Precire will erkannt haben, dass wir unser Innerstes auf der Zunge tragen – und einen Weg gefunden haben, es abzulesen. Seit vielen Jahren gibt es Untersuchungen dazu, dass sich Depressionen allein aus der Stimme eines Menschen erkennen lassen. Doch die neueste Forschung geht weit darüber hinaus: Die Persönlichkeit lässt sich aus unserer Sprache entschlüsseln, Emotionen und Eigenschaften eines Menschen, verspricht Precire.

15 Minuten Sprachdaten und ein paar Tage Auswertungszeit genügen – und ich zweifle, ob mein künftiger Chef mich einstellen würde. Nachdem das System von Precire auf der Basis von maschinellem Lernen meine Sprachdaten mit denen von 5000 Probanden verglichen hat, die zudem psychologisch vermessen wurden, behauptet es: Ich bin nicht besonders gut organisiert. Beim Charaktermerkmal „Selbstorganisation“ liege ich auf einer Skala bis 9 Punkten bei 4. Es ist mein schlechtester Wert in der Kategorie „Charakterzüge“. Außerdem sei ich emotional nur mittelmäßig ausgeglichen (4) und hätte ein hohes Autonomiebedürfnis (7). Glücklicherweise hält mich Precire für extrem neugierig (8 von 9), sehr verträglich (8), kontakt- (7) und risikofreudig (6). Ich lege angeblich weniger Wert auf Status und Dominanz (beides 5). Zudem attestiert mir das System Stress vor und während des Gesprächs sowie eine hohe Leistungsbereitschaft.

Die Software wertet zunächst den Text aus, die verwendeten Wörter, die Geschwindigkeit und vieles mehr. Wörter wie „Problem“, „schwierig“ oder „kalt“ deuten auf Negatives hin, erklärt Philipp Grochowski von Precire. In meinem Interview etwa hat er auffällig viele negative Ausdrücke gefunden. Faktoren wie die Tonhöhe, die Art, Laute zu bilden, oder die Lautstärke, also die Stimme an sich, kommen dann ins Spiel, wenn es um den Charakter und die Psyche geht. Doch welcher Faktor in meiner Stimme nun auf Unorganisiertheit schließen lässt, kann Grochowski nicht sagen. Die künstliche Intelligenz entscheidet selbst, welche der Tausenden Faktoren, die sie in den Stimmproben identifiziert hat, für welches Ergebnis relevant sind.

Einige große Unternehmen vertrauen dem Computerprogramm dennoch ihre Bewerber und Mitarbeiter an. Darunter finden sich der Thalanx-Konzern, die Fraport AG und RWE. Sie setzen diese Technologie schon heute in Vorstellungsgesprächen und zur Personalentwicklung ein – und die Nachfrage sei enorm groß, sagt Grochowski: „Sie erfahren so mehr über einen Menschen, als sie im normalen Gespräch erfahren würden.“ Und der Betroffene kann es nicht verhindern, es gibt keine Notlügen, kein Sich-Verstellen. In der Tat fühle ich mich überraschend korrekt getroffen. Dabei hatte ich extra an einem Tag angerufen, an dem ich überzeugt war, eine hervorragende Bewerberin abzugeben. Ich war beispielsweise fest davon überzeugt, dass man mir den Stress nicht anmerkt.

(rot)