FOSDEM: Kann man ohne proprietäre Software leben?

In der Eröffnungsrede zur FOSDEM-Konferenz berichten zwei Koryphäen der Free-Software-Gemeinde vom schwierigen Alltag mit ausschließlich freier Software.

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FOSDEM: Kann man ohne proprietäre Software leben?

Karen Sandler und Bradley Kuhn von der Freedom Software Conservancy eröffnen die FOSDEM 2019 in Brüssel.

(Bild: Fabian Scherschel / heise online)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Fabian A. Scherschel
Inhaltsverzeichnis

In ihrer Eröffnungs-Keynote der Open-Source-Konferenz FOSDEM in Brüssel stellen sich zwei der bekannstesten Software-Freiheits-Aktivisten die Frage, ob man heutzutage ausschließlich Open-Source-Software benutzen kann. Ihre Antwort darauf ist ein kategorisches Nein. Bradley Kuhn, lange Jahre die rechte Hand von Richard Stallman und Gründer der Entwickler-Unterstützungsorganisation Software Freedom Conservancy, gibt zu, dass er ein Android-Tablet mit proprietärer Software mit sich herumträgt. Seine Conservancy-Kollegin Karen Sandler erzählt, dass sie ohne ihren implantierten Defibrillator nicht leben kann – und die Firmware dieses Gerätes ist natürlich auch nicht quelloffen.

Diese Bekenntnisse bei der Keynote der größten Open-Source-Konferenz stellen einen fundamentalen Wendepunkt der hartgesottenen Software-Freedom-Aktivisten aus dem Dunstkreis der FSF dar. Es stellt sich raus: Genau wie überall sonst, arbeiten hier auch nur Menschen. Menschen, die zwar lange Jahre immer wieder darauf bestanden haben, dass ethische Software-Nutzung freie Software an allen Enden des Stacks voraussetzt, die aber selbst im Alltag nicht darum herum können, proprietäre Software zu verwenden.

Im Laufe ihrer Keynote stellten Kuhn und Sandler fest: Es gibt immer mehr Open-Source-Software, aber trotzdem kann man heutzutage nicht alleine mit quelloffener Software leben. Denn es gibt auch immer mehr proprietäre Software. Firefox, eines der erfolgreichsten Open-Source-Programme der Geschichte, ist demnach nun vielleicht die größte Verteilungsmethode für proprietäre Software – oder immerhin nicht-quelloffene Software. Proprietäres JavaScript ist laut Kuhn ein riesiges Problem für Menschen, die versuchen, nur Open-Source-Software zu verwenden. Und es ist laut Kuhn und Sandler ein viel zu wenig beachtetes Problem.

Haben Kuhn und Sandler eine Lösung für ihr Dilemma? Dem scheint nicht so zu sein. In ihrer Keynote rufen sie die versammelten Open-Source-Entwickler dazu auf, über das Problem zu reden und ihre Mitmenschen darauf aufmerksam zu machen. Wer freie Software entwickelt, müsse freie Software verteidigen. Und dazu gehöre es auch, möglichst viel freie und offene Programme im Alltag zu benutzen. Natürlich sei das auch oft schwierig. Und nicht nur im Falle von Sandlers Defibrillator, der ihr im Notfall das Leben retten soll.

Es ergeben sich solch alltägliche Probleme wie etwa der Umstand, dass die Software Freedom Conservancy ihre Bankgeschäfte über proprietäre Software regeln muss. Und da eine der Hauptaufgaben der Conservancy das Abwickeln von Geschäften für unabhängige Open-Source-Projekte ist, scheitert die Organisation schon im Alltag an ihren eigenen Prinzipien. Kuhn und Sandler haben nach eigenen Angaben auch jahrelang versucht, nur mit gedrucken Karten zu navigieren, da sie ohne JavaScript Google Maps nicht verwenden konnten, und mussten auch hier schließlich aufgeben.

Aber warum würden Menschen überhaupt komplett auf proprietäre Software verzichten wollen? Für Kuhn und Sandler ist es eine Frage der moralischen Herangehensweise. Sie sehen Software, die von Firmen in geschlossenen Ökosystemen entwickelt wird, als gefährlich für die Gesellschaft. Für sie gibt es keinen Grund, warum Software nicht immer offen entwickelt werden sollte und der dabei entstehende Quellcode frei allen zur Verfügung steht. Denn so dient die Software der Allgemeinheit und kann auch von der Allgemeinheit verbessert werden kann. Bei diesem Schluss würde ihnen wohl die große Mehrzahl aller im FOSDEM-Auditorium anwesenden Entwickler zustimmen.

Aber Kuhn und Sandler lehnen es aus derselben Überzeugung ab, Programme und Dienste zu verwenden, die nicht auf diesem Wege entwickelt wurden. Für sie ist das eine ethisch-moralisch zwingende Verpflichtung. Und obwohl viele ihrer Zuhörer das vielleicht bewundern, würden doch wohl nur die wenigsten Anwesenden auf die Idee kommen, kategorisch jegliche proprietäre Software abzulehnen. Und wie es scheint ist das sowieso momentan gar nicht möglich. Selbst für die überzeugtesten Open-Source-Aktivisten. (tiw)