Muss das Netz wieder langsamer werden?

Die aufgeregte Debatte über Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Autobahn hat eine digitale Entsprechung gefunden.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Slow down, you move too fast
You got to make the morning last
Just kicking down the cobblestones
Looking for fun and feeling groovy

Simon & Garfunkel, 59th Street Bridge Song

Justin Kosslyn findet, dass Firmen wie Google, Facebook, Netflix oder Amazon besessen davon sind, Daten so schnell wie möglich übertragen zu können, "und das hat das Internet unsicher gemacht." Der amerikanische Politikwissenschaftler Harvey Wheeler formulierte schon in den 70er-Jahren: "Schnelle Information schafft schnelle Krisen."

Kosslyn ist nicht Irgendwer. Er gehört der Leitung von Jigsaw an, eine Unternehmung, die 2010 unter dem Namen Google Ideas als Thinktank für geopolitisch relevante Technologiethemen wie Netzsicherheit oder Zensur gegründet worden war und heute unter dem Dach der Google-Holding Alphabet residiert. Wie lassen sich die globalen Sicherheitsherausforderungen bewältigen? Anders als auf einer (amerikanischen) Autobahn, auf der geregelt ist, wie schnell man fahren darf, läuft der Datenverkehr unbeschränkt. Dieselbe Designphilosophie, die den Strom an Mails, Nachrichten und Handel beschleunigt, beschleunigt auch den Strom an Phishing, Ransomware und Desinformation.

Die Reibungslosigkeit, mit der das Netz funktioniert, gefährdet es zugleich. Nach Kosslyn ist es an der Zeit, sich wieder "mit der durchdachten Anwendung von Reibung", von Verzögerungen und Hemmnissen zu befassen. Damit gewinnt man Zeit, und Zeit reduziert das Systemrisiko. Eine Krankheit kann nicht zu einer Epidemie werden, wenn die Patienten schneller geheilt werden als sich die Krankheit ausbreitet. Kosslyns Lösungsansatz würde allerdings eine eherne Regel im Online-Universum aushebeln – die Netzneutralität, die dafür sorgt, dass alle Daten gleichrangig befördert werden. Nur dringende Inhalte sollten schnell sein (die meisten sind nicht dringend), und Inhalte, die möglicherweise Phishing oder Malware enthalten, könnten zusätzlich verzögert und algorithmisch nach verdächtigen Mustern durchsucht zu werden.

"Früher gab das Prüfen und Testen einer Erfindung genügend Zeit nicht nur zur Überwindung der ihr anhaftenden Fehler, sondern auch, um die Gemeinschaft darauf vorzubereiten", schrieb der Kulturphilosoph Lewis Mumford in seinem Buch "Mythos der Maschine", – "Heute stehen wir der umgekehrten Situation gegenüber. Hindernisse solcher Art wurden niedergerissen; und das jüngste technische Projekt verlangt, anstatt sich bewähren zu müssen, von der Gesellschaft um jeden Preis sofort übernommen zu werden; jedes Zögern gilt als sträflich, oder, wie William Ogburn es es einmal naiv ausgedrückt hat, als kulturelle Rückständigkeit."

Der US-Soziologe Ogburn gilt als Pionier der Technikfolgenabschätzung. Er entwarf die Theorie der kulturellen Phasenverschiebung, die besagt, dass einige Teile der Gesellschaft sich langsamer auf Veränderungen vor allem technologischer Art einstellen als andere. Dies hat zur Folge, dass ein gesellschaftliches Ungleichgewicht entsteht, das zu sozialen Problemen und Konflikten führt. Den Daten im Internet – nach Google-typischen Effizienzkriterien – nun unterschiedliche Prioritäten zu geben, würde wohl zu einer Verstärkung dieses Ungleichgewichts führen.

Interessant ist der Vorschlag, lokale Inhalte zu bevorzugen. Wenn Nachrichten, soziale Medien und sogar Apps empfohlen werden, die eher auf dem geografischen Standort einer Person basieren als auf ihren abstrakten Interessen, wird die Struktur der Informationsökologie grundlegend verändert. Damit ließen sich etwa auch Desinformationskampagnen ausbremsen, die immer gern nationale oder globale Phänomene sein wollen.

(bsc)