Zahlen, bitte! 17 blaue Noten, oder: Amerika hören

Eine aufsteigende Folge von 17 Noten? Wer sie hört (nicht nur zum Auftakt von Woody Allens "Manhattan"), meint jedenfalls: Das kenn ich doch, was war das noch?

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Zahlen, bitte! 17 blaue Noten, oder: Amerika hören
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Heute vor 95 Jahren wurde George Gershwins "Rhapsody in Blue" in New York aufgeführt. Das Konzert für Orchester und zwei Klaviere brachte den Durchbruch für Gershwin in der klassischen Musik, machte dem jungen Komponisten aber auch schwer zu schaffen.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

In kaum mehr als 4 Wochen komponierte George Gershwin für den Bandleader Paul Whiteman eine amerikanische Rhapsodie, die nach einem Vorschlag seines Bruders Ira zur "Rhapsody in Blue" umbenannt wurde. Die amerikanisch vielstimmige Kollage und die Melodien kamen Gershwin auf einer Eisenbahnfahrt von New York nach Baltimore, so auch die Eingangskadenz mit ihren 17 Tönen.

Die Eingangssequenz der "Rhapsody in Blue"

(Bild: acoustics.org: How to play the first bar of Rhapsody in Blue )

Erst während der Proben zur Uraufführung verschleifte der Klarinettist Ross Gorman die Tonfolge im Klezmer-Stil zum gackernden Großstadt-Sound. George Gershwin war begeistert, ebenso Ferde Grofé, der Pianist und Arrangeur von Whiteman, der den orchestralen Part der Rhapsody schrieb. Als amerikanisches Erbe wird der Auftakt des Gershwin-Stücks mit Beethovens fünfter Symphonie verglichen.

Am 12. Februar 1924 wurde in der Aeolian Hallin New York ein Konzert des Paul Whiteman Orchestra aufgeführt, das Jazz und klassische Musik miteinander versöhnen sollte. Zum Schluss, nach Pomp and Circumstance des Briten Edward Elgar, stand die Uraufführung eines eigens für diesen Abend in Auftrag gegebenen Stückes an. "Rhapsody in Blue" brachte dem Pianisten und Komponisten George Gershwin den Durchbruch. "In Amerika Amerika gehört", notierte der Konzertbesucher Sergej Rachmaninoff.

Von der Uraufführung vor 95 Jahren gibt es keine Aufzeichnung. Was ihr am nächsten kommt, ist die neunminütige, digital überarbeitete Version von 1924 mit George Gershwin am Klavier. Alternativ dazu das knackende Original dieser Aufnahme als Real-Audio-Datei, das über den Eintrag zum Bandleader Paul Whiteman verfügbar ist. Beide Versionen geben den lachenden, gackernden Einstieg wieder, wie ihn Ross Gorman spielte und wie er Akustiker und Mathematiker bis heute beschäftigt.

Beide Versionen leiden freilich darunter, dass sie auf maximal 9 Minuten Spielzeit beschränkt sind, die damals auf einer Platte Platz hatten. So klingt die ganze Komposition etwas gehetzt. Noch in der Verfilmung der Uraufführung mit Whiteman als Whiteman sitzt einer bewundernd im Publikum, der die Spielzeit mit der Stoppuhr verfolgt. Wie sehr der Anfang inzwischen "Kultur" geworden ist, mag dieses Sicherheits-Video von United Airlines zeigen, in dem er dutzendfach je nach Land und Leuten variiert wird – United hat sich frühzeitig die Rechte an der Rhapsody gesichert, zunächst zusammen mit dem Abführmittel Feen-a-mint.

Bis zur Uraufführung der "Rhapsody in Blue" hatte George Gershwin Kompositionsunterricht bei Charles Hambitzer, Eward Kilenyi und Henry Cowell erhalten, wohlgemerkt in seiner Freizeit und auf eigene Kosten. Denn der Schulabbrecher hatte keine "klassische Ausbildung", sondern arbeitete zunächst als Plugger (Musikwerber), dann als Konzertbegleiter und Songschreiber. Die kritischen Stimmen zur Premiere des Stückes verletzten ihn sehr, denn sie bemängelten die mangelnde Originalität. Gershwin habe nur eine Musikcollage vorgetragen, keine reale Komposition, er sei nur ein Arrangeur des Alltages. Auf das hier und heute übertragen könnte man sagen, dass da einer mit einem als Recorder eingeschalteten Smartphone durch New York gegangen ist.

In der Folge versuchte der nunmehr immens erfolgreiche Gershwin, Kompositionsunterricht bei Igor Strawinsky, Maurice Ravel und vor allem bei Nadia Boulanger zu erhalten, doch diese im Klassik-System Etablierten lehnten ab.

Am Ende war es Joseph Schillinger, der Gershwin im Schillinger-System unterrichtete. Das geschah zunächst persönlich, später auch im Fernunterricht, als Gershwin nach Hollywood gezogen war. Über den Erfolg des von Schillinger propagierten mathematischen Komponierens nach den binomischen Formeln und anderen mathematischen Transformationen wird bis heute gestritten.

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Passagen in Gershwins letztem großen Werk vor seinem frühen Tod, der Oper Porgy und Bess, enthalten viele Hinweise auf das Schillinger-System, doch von der Vollendung, die der Schillinger-Schüler Glenn Miller mit Moonlight Serenade präsentierte, sind sie meilenweit entfernt. Bei allem Formalismus begeisterte sich Gershwin für die Musik seiner Zeit. Er schrieb unter anderem Summertime, einen Blues. Dennoch wurde Gershwin, dessen "Neger-Musik" im Nationalsozialismus verboten war, dem deutschen Nachkriegspublikum als Komponist mit dem Rechenschieber vorgestellt. (jk)