Keiner liest mehr, alle schreiben

Offensichtlich nimmt im Kommunikationszeitalter die Kommunikation an Quantität stark zu und an Qualität ebenso ab. Oder sind Hassrede, Online-Gereiztheit oder die Lust, sich sozial in Luft aufzulösen, nur Zeichen eines Übergangs?

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Spätestens seit die sozialen Netze so richtig in Schwung gekommen sind, ist klar, dass wir nicht im Informationszeitalter leben, sondern im Kommunikationszeitalter. Der Kommunikationismus wird siegen! Der Weg dahin scheint allerdings kurvenreich, denn die Kommunikation im Netz entwickelt erstmal einen weitgehend negativen Tenor. Die Stimmlage ist oft häßlich, empört, gereizt. Im Schutz der Pseudonymität verdunstet die von direkten Begegnungen gewohnte Affektbezähmung, es wird gepoltert, gelogen, gepöbelt. Man kann Meinungen austauschen, immerhin etwas Positives. Von Debatten würde ich aber nicht sprechen wollen, denn die Schriftform und, etwa bei Facebook, die Nadelbaumhaft verzweigten Beiträge ergeben noch keine Debatte.

Manche vergessen auch, dass Meinungsfreiheit ein Recht ist, keine Pflicht. Jeder gibt seinen Senf dazu, was im sozialen Nahbereich seit eh und je passiert, jetzt aber können auch andere mithören respektive mitlesen. Wände und Abgrenzungen, die zuvor Privatsphäre signalisiert haben, werden durchlässig oder verschwinden ganz. Statt sich zum Telefonieren in eine Zelle oder Kabine zurückzuziehen, beschenkt der Mobiltelefonierer heute seine Umgebung mit Ausschnitten aus seinem Privatleben. Und für die Bequemlichkeit, die uns Facebook und Co bieten, nämlich zu Hause sitzen und kostengünstig den eigenen Rotwein trinken zu können und sich online zugleich ganz kneipenhaft zu unterhalten, lassen wir uns eben auch ein bißchen eingehender in die Karten schauen. Faulheit siegt.

Quantitativ ist das Kommunikationszeitalter ein voller Erfolg. Die Menschen genießen es, nicht nur wie in den klassischen elektrischen Medien frontalbeschallt zu werden, sondern nun auch selbst Sender sein zu können. Keiner liest mehr, alle schreiben; zumindest manchmal stellt sich dieser Eindruck ein. Ein möglichst hohes Quantum an Zeit, an Aufmerksamkeit, an Mausklicks möchte die digitale Wirtschaft von uns. Qualitativ, siehe häßlich und gereizt, befinden wir uns, ich hoffe doch sehr, in einer Übergangsphase. Sonderbar ist, dass in manchen Fällen auch das Verlöschen von Kommunikation zu den Symptomen des Kommunikationszeitalters zählt. Mobiltelefonbesitzer etwa telefonieren wenig, senden lieber Textmessages.

Und dann wäre da noch das Ghosting. Begonnen hat es damit auf Dating-Portalen. EIn Kontakt kommt zustande, man versteht sich, alles ganz wunderbar. Plötzlich ist der andere weg, ohne ein Wort. Durch die Wand hinaus in die Welt entschwebt, wie ein Geist. Die Umgangsform breitet sich auch in der Unternehmenswelt aus.

Die US-Notenbank FED wies im November letzten Jahres darauf hin, dass viele Firmen über Arbeitnehmer klagen, die von heute auf morgen nicht mehr zur Arbeit kommen und dafür keine Erklärung liefern. Es scheint sich um ein neues, gewissermaßen digitales Verhaltensmuster zu handeln – 0 oder 1. Auch hierzulande gibt es beispielsweise Autoren, die eigentlich ein Buchmanuskript abliefern sollten, dann aber stattdessen abtauchen. Das Phänomen ist ebenso in Japan verbreitet.

Aus der Nichtkommunikation lässt sich sogar ein Geschäft machen. Ein Startup bietet für 400 Euro einen reibungslosen Kündigungsservice an. Er soll Angestellte, die von einem Moment auf den anderen nicht mehr zur Arbeit und der Begegnung mit dem Chef ausweichen wollen, ungestört in ihrem Absprungschwung belassen und an ihrer Stelle kommunizieren.

(bsc)