Ziel ohne Reise

Sanft und in angenehme Dienstbarkeiten gehüllt nehmen uns Algorithmen die Fähigkeit, neue Erfahrungen zu machen.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Wenn etwas ebenso anstrengend ist und genauso lange dauert wie früher, sind wir heute deutlich soforter genervt. Wir haben uns ein neues Leiden zugezogen – moderne Ungeduld: Wenn man Tickets online kaufen kann, ist es ärgerlich, sich am Telefon wieder in eine Warteschlange einreihen zu müssen. Inzwischen haben wir es paradoxer Weise mit Technologien der Massenindividualisierung zu tun. Facebook ist der bequemste Weg, den Überblick über sein – virtuelles – persönliches Umfeld zu behalten, das theoretisch dem entsprechen sollte, was an einem Individuum einzigartig ist.

Facebook aber macht uns alle gleich und reduziert persönliche Ausdrucksformen auf analphabetische Icons. Debatten in der altgewohnten analogen Ausführlichkeit schrumpfen zu Zweigen einer dialogähnlichen Baumstruktur, in der sich viel an uneingelöstem Ausdrucksbedürfnis anstaut, das sich auch immer wieder in Form aggressiver, hasserfüllter Sprache entlädt.

Der heutige Bequemlichkeitskult muss erst wieder lernen, dass Differenzen, Schwierigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten ein konstitutives Merkmal der menschlichen Erfahrung sind. Bequemlichkeit ist oft nur noch Ziel ohne Reise. Aber einen Berg zu besteigen ist etwas anderes als mit der Seilbahn hochzufahren, auch wenn man am selben Ort ankommt. So werden wir zu Menschen, die nur noch an Ergebnissen interessiert sind. Indem wir es uns digital bequem machen, setzen wir die Möglichkeiten freier Auswahl aufs Spiel.

Es geht dabei nicht nur um Produkte und Dienstleistungen, sondern schlicht um Selbstbestimmung, denn Algorithmen treffen inzwischen in immer mehr Bereichen Entscheidungen, an denen wir uns nicht mehr bewusst beteiligen können. An die Stelle des menschlichen Urteilsvermögens treten zunehmend datengetriebene Prognosen und Einschätzungen. Wir lassen zu, dass unser Leben auf subtile Weise von Unternehmen nachjustiert wird, denen wir unsere Daten überlassen oder die sie sich einfach nehmen.

Autohersteller und Versicherungen kennen unser Fahrverhalten, deren Auswertung mit besseren Navis, zuverlässigeren Autopiloten und, bei Wohlverhalten, mit niedrigeren Versicherungsprämien belohnt wird. Online-Shopping bietet die Suche in einem Katalog mit Milliarden von Produkten vom Sofa aus – aber häufig erhalten wir doch nur wieder Ergebnisse wie bei unseren letzten Suchanfragen. Haben wir wirklich noch die freie Wahl? Auf der Grundlage unserer zurückliegenden Käufe wird unser Geschmack gebetsmühlenartig von Algorithmen bestätigt und zu einer konservativen Kategorie verstärkt. Statt Neues zu erkunden, lassen wir unser Blickfeld verkümmern.

Wer gern Filme aus den 40er-Jahren sieht, Swing mag, sein Immobiliendarlehen fast abbezahlt hat und Deluxe-Vogelfutter kauft, kann von der Maschine in einem Cluster für pensionierte Babyboomer einquartiert werden. Er wird jetzt viel von Kreuzfahrtreedereien hören und es wird ihm keine Werbung von The Gap mehr eingeblendet. Amazon hält uns in Clustern gleichgesinnter Käufer gefangen, Google in Gruppen gleichartigen Sucher und Facebook von gleichgesinnten Bürgern. So machen wir immer weniger neue Erfahrungen und nehmen stattdessen Echos unserer vergangenen Entwicklung wahr. Statt herauszufinden, was wir tatsächlich wollen, beschränken die Algorithmen uns auf das, was wir waren.

(bsc)