Zahlen, bitte! 1 - oder: vom Messen und seinen Fehler-Maßen

Vor über 200 Jahren wurde die Erde vermessen und der Urmeter geschaffen. Aber wie lang ist der eigentlich?

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Zahlen, bitte! Vom Messen und seinen Fehler-Maßen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Martin Lang

Bevor das Urmeter gemessen werden konnte, musste es definiert werden. Im Frankreich wagte man am 26. März 1791 den großen Wurf und definierte die revolutionäre Maßeinheit als den zehnmillionsten Teil der Strecke vom Pol zum Äquator. Den galt es jetzt nur noch zu vermessen, und zwar auf der Strecke von Dünkirchen bis nach Barcelona. Den Rest sollte die Mathematik besorgen. Die Meridianexpedition machte sich ab 1791 auf das, was in der Populärwissenschaft "Die Jagd nach dem Urmeter" genannt wird.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Diese Jagd war im revolutionären Frankreich nicht ungefährlich: Die beiden Trupps der Landvermesser wurden oftmals für feindliche Agenten gehalten, denn ihre Suche nach Kirchtürmen als Landmarken für die für die Triangulation war verdächtig. Schließlich wurden im ganzen Land gerade die Kirchtürme als Symbole klerikaler Unterdrückung abgerissen. Doch schließlich war 1798 das "definitive" Urmeter bestimmt.

Später beschäftigten sich die Philosophen mit dem Urmeter. "Man kann von einem Ding nicht aussagen, es sei 1 m lang, noch, es sei nicht 1 m lang, und das ist das Urmeter in Paris. – Damit haben wir aber diesem natürlich nicht irgendeine merkwürdige Eigenschaft zugeschrieben, sondern nur seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Metermaß gekennzeichnet, schrieb Ludwig Wittgenstein in seinen "philosophischen Untersuchungen." Wittgensteins Erkenntnis ist schlicht. Wir vergessen, dass das Meter eine Relation ist, von etwas zu Messendem mit einer Kopie des Pariser Urmeters, es erscheint aber wie eine Eigenschaft des Gemessenen.

Dieses "Vergessen" kommt an den Tag, wenn man fragt, wie lang das Pariser Urmeter sei, es ist eben so lange wie das Pariser Urmeter, was nun mal keine Längenangabe ist, sondern eine Tautologie. Von der Sorte gibt es mehr: Deutschland muss Deutschland bleiben. Das ist eine unkritisierbare Aussage, da sie nichts sagt. Tatsächlich ist sie aber ein Appell an die Leute, die schon der gleichen rechten Meinung sind, wie der Ausrufer dieser "Identität".

Vor Wittgenstein hat sich ein anderer berühmter Philosoph über das inklinierte Messproblem lustig gemacht: "Daß etwas ein quantum sey, kan man aus dem Dinge selbst erkennen; aber die Qvantitaet nicht anders als durch etwas anderes angenommene. Z.B. Man kan die Größe der Erde nicht durch deutsche Meilen, wenn man von diesen nichts anders als den Begrif des 15ten theils eines Grades hat, den Grad aber nicht durch Ruthen (also alio assumto) gemessen hat, erkennen." So formulierte es Immanuel Kant. Er machte darauf aufmerksam, dass die pompöse Aussage, der Erdumfang sei 5400 deutsche Meilen, eben nur sage, er sei 5400 mal 1/15 Grade des Kreises von 360 Grad, also sagt er nichts anderes als dass der Kreis in 360 Grad eingeteilt wird, was überhaupt keine Auskunft über die Erde ist, solange sie nicht in Ruten nachgemessen ist.

Was wir über einstellige Eigenschaften und mehrstellige Relationen als Beispiel angeführt haben, das lässt sich zu einem Prinzip der Forschung erweitern. Das führt der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn vor. In seiner Schrift "Die Entstehung des Neuen" führt Kuhn im Kapitel "Die Funktion des Messens in der Entwicklung der physikalischen Wissenschaften" hübsche Karikaturen vom Messen von Daten vor. Da sollen Leute hingehen, messen und dann stimmt das Ergebnis. Pustekuchen! "Oft kommen die Wissenschaftler nicht zu Zahlen, die sich gut mit der Theorie vertragen, solange sie nicht wissen, welche Zahlen sie der Natur abzuringen versuchen müssen." Und eine Seite weiter schreibt Kuhn über die Grenzen der apparativen Möglichkeiten, die das Ergebnis stark beeinflussen: "Das theoretische Genie eilt den Tatsachen voraus, und überlässt das Aufholen den ganz anderen Fähigkeiten des Experimentators und Erfinders von Apparaten".

Ein Wert für irgendeine Konstante im physikalischen Lehrbuch wird mit einer Zahl angegeben, tatsächlich aber muss das Fehlerintervall darum herum ebenso angegeben werden, wir übersehen das aber: es ist wieder eine Eigenschaft (fixe Zahl) mit der Relation verwechselt, dem Fehlerintervall (einer Zahlenmenge ungefähr drumrum), die zu dem "Wert" gehört. In dem Fehlerintervall, der vergessenen Un-Exaktheit, steckt der Fortschritt, was Kuhn sehr schön an mehreren Beispielen ausführt: gewissermaßen steckt im alten Fehlerintervall um den fest geglaubten Wert der "entscheidende" Beleg einer nächsten Theorie.

Statt eines exakten Punktes hat es sich gewissermaßen um eine russische Puppe gehandelt. So entdeckte man Anfang des 19. Jahrhunderts, dass die Anomalie der Periheldrehung des Merkurs vorher in den "Grenzen vernünftiger Übereinstimmung" untergegangen war. Dieser kleine Wert bekam seine "Krönung" als einer der Beweise der Allgemeinen Relativitätstheorie von Einstein.

Messungen können eine ungeheuer wirkungsvolle Waffe im Kampf zwischen Theorien sein, aber es muss mindestens zwei geben, sonst werden Anomalien ziemlich hartnäckig übersehen. Kuhn formuliert es so: Es geht nicht um den Vergleich einer einzelnen Theorie mit der Welt, sondern von zwei konkurrierenden Theorien mit der Welt. Für alle, die sich mit dem Messen von Werten beschäftigen, hatte Kuhn übrigens tröstende Worte parat. Regel 1: "Keine Apparatur funktioniert beim ersten Mal". Regel 2: "Kein Instrument liefert genau den erwarteten numerischen Wert." (mho)