Zahlen, bitte! Die Macht von Zwei: Von Menschen, Parteien und Meinungen

Die Basis 2 ist auch die Macht von Zwei. Eine philosophische Betrachtung.

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Zahlen, bitte! Die Macht von Zwei: Von Menschen, Parteien und Meinungen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Martin Lang
Inhaltsverzeichnis

Aus n Dingen kann man 2n verschiedene Ansammlungen bilden. Formal ist das die Anzahl der n-stelligen Ausdrücke im Zweiersystem, das Element sowieso wird genommen, wird nicht genommen. Schön geschrieben sieht das so aus:

80 Millionen Deutsche können 280.000.000 ~ 1024.000.000 verschiedene Grüppchen bilden, eine unvorstellbare Vereinsmeierei. Da kommt die Philosophie ins Spiel, mit Epiktet: "Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge." In der Tat: Zu n Dingen gibt es 2n verschiedene Meinungen, d. h. in anderer Ausdrucksweise eben 2n verschiedene Zusammenhänge zwischen diesen Dingen. Vor allem aber gibt es in dieser Auffassung sehr viel mehr Meinungen als Dinge. Es herrscht, könnte man sagen, eine extreme idealistische Inflation, oder umgekehrt eine schlimme materialistische Armut. Damit haben sich Philosophen intensiv beschäftigt, einer von ihnen war Michel Foucault.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Gewöhnlich geht man bei der Aussagenanalyse von einer Überfülle des Sinnes aus, nicht nur was die Leute gesagt haben, sondern auch was sie in ihren Institutionen, Objekten, etc. haben sagen wollen usw. usf. Dagegen stellte sich die Foucaultsche Aussagenanalyse, "sie beruht auf dem Prinzip, dass nie alles gesagt worden ist; man untersucht die Aussagen an der Grenze, die sie von dem Nicht–Gesagten trennt, in der Instanz, die sie beim Ausschluss all der anderen auftauchen lässt", schreibt Foucault in der "Archäologie des Wissens".

Dieser Ausschluss ist jedoch nicht Unterdrückung von etwas Nichtgesagtem, sondern Isolierung in der Zerstreuung; weil Aussagen selten sind, wertet, kopiert man sie. "Interpretieren ist eine Weise, auf die Aussagearmut zu reagieren und sie durch die Vervielfachung des Sinnes zu kompensieren." Ferner ist für Foucault die Aussage ein Gut, da mit ihrer Existenz die Frage der Macht sich stellt: "Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand eines Kampfes und eines politischen Kampfes ist."

Auf die Aussagenarmut durch Vervielfältigung des Sinnes reagieren, oder die Unübersichtlichkeit durch Finden und Erfinden von Zwischengliedern auflockern: was soll's sein - na ja, beides. Ludwig Wittgenstein bemerkte dazu: "Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, dass wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. - Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. -- Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, dass wir die >Zusammenhänge sehen<. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern."

Irgendwas ist da krumm. Sehen wir uns politisch nach Meinungsbündeln um, manchmal auch Parteien genannt, so sind es ernsthaft weniger als 10 hierzulande, also ungefähr was drei Leute (23 = 8) formal nach obigem Modell in einer Wirtshausrunde auf den Tisch kriegen könnten (verwechseln Sie bitte das Modell nicht mit der Wirklichkeit!). Es wird wieder endlich. Und diese Parteien sind selbst wieder Interessen-Repräsentationen von Interessenverbänden, Lobbyismusschwemme; sie sind Mengen von Mengen von Mengen von Menschen, also streng genommen Teilmengen von 2^2^80000000, da wird's ganz abenteuerlich (selbst das CMS versagt die korrekte Formatierung), also bleiben wir lieber unter 10.

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Versuchen wir das mal einfach zu fassen: Denken wir von n nach 2n, oder denken wir von 2n nach n? Die Frage ist noch ein wenig dürr (bloß exponentiell oder logarithmisch). Version 1: a. gehen wir von Individuen aus, und kommen zu Kollektiven, oder 1: b. differenzieren wir aus Kollektiven Individuen? Version 2: a. gibt es am Anfang Eigentümer und sie bilden Staaten zum Schutz ihres individuellen Eigentums, oder 2: b. stehen am Anfang Kollektive, die die Privatnutzung des Gemeineigentums sichern (der berühmte Artikel 14 GG)? Version 3: a.gehen wir von Einzeldingen aus, und kommen zu Begriffen, oder 3: b. kommen wir von Begriffen zu Einzeldingen (vornehmer mit Niklas Luhmann ausgedrückt: wir reduzieren Komplexität)?

Von Version 3: b. als Beispiel für "Zahlen, bitte!" einschlägig ist die Begründung der Arithmetik durch Gottlob Frege. Er geht aus von Begriffen (dass wir verstehen, dass wir verstehen), kommt zu dem speziellen Begriff "sich-selbst-ungleich", dem er das Individuum 0 (den Umfang leere Menge) zuordnet. Die sogenannten natürlichen Zahlen sind Nachfolger dieser 0. Sie sind gewissermaßen alle Nullen

Das versteckt sich hinter dem seltsamen Verbot, durch 0 zu dividieren. Das hört sich wie das eherne Gesetz einer Gottheit an, aber es lohnt sich, zum hundertsten Mal genau hinzusehen: Was würde denn passieren, wenn wir durch 0 dividieren dürften? m•0 = 0 = n•0, also m = n = 0-durch-0 für alle Zahlen m und n. Auf Deutsch: Alle Zahlen sind gleich, es nützt aber noch nicht einmal etwas, zu sagen, alle Zahlen seien gleich 0. Nur noch Nullen? Alle Menschen sind gleich heißt nicht alle Menschen sind Nullen! Statt dem Verbot, durch eine Gottheit verhängt, haben wir unser eigenes Interesse: Mit Zahlen wollen wir Unterschiede ausdrücken.

Woher kommt das eigenartige Kuddelmuddel in dieser Frage? Wir denken sowohl-als-auch: Wir übertreiben von n nach 2n und wir abstrahieren von 2n nach n. Manchmal machen wir aus einer Mücke einen Elefanten, manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wir kennen beide Richtungen, die Sprüche dazu auch, weder Individualismus noch Kollektivismus sind durchhaltbar, sie sind bloß "Schemen" unsere Urteile zu ordnen. Der Rest ist Induktion. (jk)