Die Verhörungstheorie

Alle haben Angst davor, abgehört zu werden. Dabei hört einem in Wirklichkeit keiner mehr zu.

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Von
  • Peter Glaser

In einer Vitrine am Bürgersteig ein Reklameplakat mit einer lächelnden Frau, die ein Buch auf dem Kopf balanciert wie ein Model. "Schreib! Dein! Buch!", donnert einem dazu eine Imperativ-Kaskade entgegen. "Tu's! Nicht!" möchte man ihr entgegenrufen, aber es interessiert ja niemanden, was ich so zu rufen habe. Es hört ja keiner mehr zu.

"Alles ist schon einmal gesagt worden", soll der französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger André Gide einmal gemeint haben, "aber da niemand zuhört, muss man es immer von neuem sagen." Was ja auch Goethe schon gemeint haben dürfte, als er schrieb: "Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken." Wobei er womöglich die Stelle im Alten Testament kannte, an der es heißt "Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne."

Goethe aber hat wohl auch geahnt, dass diese Sicht zu pessimistisch ist. "Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich", schreibt er in "Wilhelm Meisters Wanderjahre" von anno 1821 – "es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen." Und zwar beispielsweise in Form von Amazons akustischem Flaschengeist Alexa, der in einem Lautsprecher namens Echo wohnt. Ein künstlich intelligenter Assistent, der, wie sich gerade herausgestellt hat, gar nicht so künstlich intelligent ist wie die Marketingabteilung tut.

Es ist nämlich die, ja: natürliche Intelligenz von Hunderten Amazon-Mitarbeitern, die sich Aufzeichnungen mit teils missverständlichen Anweisungen an das sprachgesteuerte Stück Hardware anhören müssen, um dessen Erkennungsquote zu erhöhen. Mit dem Wort ALEXA etwa weckt man das Maschinchen aus dem Lauerschlaf. Allerdings reagiert Alexa manchmal auch auf Worte, die sich so ähnlich anhören wie ALEXA, jedenfalls für einen Computer, der in einem Schallwellengebräu hektisch bestimmte Muster zu erkennen versucht. Dann sind plötzlich die Mikrofone eingeschaltet, ohne dass der Nutzer es beabsichtigt hätte. Sofort schnappt wie eine gigantische Mausefalle die Standardparanoia zu: ICH WERDE ABGEHÖRT! Ausrufezeichen. Das ist Käse.

Denn, seien wir uns doch mal ehrlich: Fühlen wir uns nicht geradezu gestreichelt, wenn uns endlich jemand aufmerksam und redlich interessiert zuhört? Im Internet ist man nicht mehr nur berieselter Empfänger wie bei Steinzeitmedien à la TV, man ist zugleich auch Sender. Und genau das ereignet sich: eine Kommunikationskakofonie, Jeder gibt seinen Senf dazu. Was etwa bei Blogs dazu führt, dass alle nur noch schreiben wollen und keiner mehr liest. Angst davor, abgehört zu werden? Ach, komm.

Das ganze Feuilleton und wir alle – wir Unerhörten! – warten doch nur darauf, dass die NSA endlich die sechsmilliardenbändige Gesamtausgabe des mitgeschnittenen Weltgeschwätzes herausbringt und wir den wuchtigen, nur aus unseren persönlichen Äußerungen transkribierten Band wie ein dickes Baby in Händen halten.

Jemand interessiert sich wirklich für mich, in einer Zeit, in der immer mehr Unternehmen Algorithmen zum Einsatz bringen, die immer perfekter so tun können, als ob sie sich für mich interessieren würden. Dagegen sind Geheimdienstler echt Bio. Observieren heißt in Österreich übrigens einfach nur, dass der Kellner die leergegessenen Teller wieder mitnimmt.

(bsc)