Masern sind kein Kinderkram

Masern-Impfflicht, Sanktionen oder Aufklärung? Eine paradoxe Debatte um einen kleinen Piks.

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Die aktuelle Debatte über Masern-Impfflicht und Sanktionen oder Aufklärung ist eigentlich paradox, denn sie ist eine unmittelbare Folge davon, dass wir gute Impfstoffe haben und diese über viele Jahre breit verwendet wurden. Masern sind hochansteckend und wenn die Masern-Saison im Frühjahr beginnt, erwischt es nur diejenigen, deren Immunsystem nicht darauf vorbereitet ist, denn einmal Masern durchlebt, bedeutet für immer geschützt. Nicht vorbereitet sind die jungen Immunsysteme von Kindern, daher die weit verbreitete Meinung, Masern seien eine Kinderkrankheit.

Keine Frage: Dass wir derzeit ein wachsendes Problem mit Masern haben, ist der zunehmend nachlässigen Impfdisziplin zuzuschreiben. Natürlich gibt es auch die vergleichsweise kleine Schar der überzeugten Impfgegner – die machen die Masern aber nicht zu einer Epidemie. Das Problem hinter der mangelnden Impfdisziplin ist ein anderes: Kaum jemand kennt die schweren Folgen der Masern mehr. Masern machen keine Angst – ist ja nur eine Kinderkrankheit mit ein paar Punkten… Bis vor wenigen Jahren die ersten Masernwellen über das Land rollten, kannten nur die altgedienten Infektiologen in Kliniken noch das Krankheitsbild Masern. Was Masern für schreckliche Folgen haben können, weiß einfach niemand mehr: Mittelohr- und Lungenentzündungen, unterschiedliche Entzündungserkrankungen im Atemwegstrakt und schwere Gehirnentzündungen. Die Gehirnentzündungen sind für ein Fünftel der Patienten tödlich, ein Drittel der Überlebenden trägt bleibende Schäden des Zentralnervensystems davon. Unser Gesundheitssystem ist zu gut, wir sind zu gesund, Infektionen sind kein Schreckgespenst mehr.

Zurück zur Ausgangslage: Impfflicht oder nicht, Sanktionen oder Aufklärung?

"Kinderlähmung ist bitter. Schluckimpfung ist süß." Diesen Slogan hat sich in die Gehirne der älteren Semester unter eingebrannt. Die zwangsweise in der Schule verabreichten Zuckerwürfel wurden damals konsequent von Aufklärung begleitet. Das hat funktioniert. Polio ist zwar – Kriege und Krisen vertragen sich nicht mit Impfdisziplin – noch nicht in allen Varianten weltweit ausgerottet, aber eine deutsche Durchimpfungsrate von 95 Prozent reicht aus, um die "Herde" Deutschland vor Polio zu schützen. Das kann sich schnell ändern. Syrien hat beispielsweise vor dem Krieg eine Durchimpfungsrate von 90 Prozent gehabt, so das Robert-Koch-Institut. Innerhalb weniger Monate ist durch den Kriegsausbruch die Quote auf 60 Prozent gefallen. Die Folge: ein Polioausbruch im Jahr 2013.

Pocken: 1967 schrieb die Weltgesundheitsorganisation die Impfung gegen Pocken vor. Nicht einmal zehn Jahre später, 1976, wurde die Impfflicht in Deutschland wieder aufgehoben. Impfen war nicht mehr nötig. Die Pocken weltweit ausgerottet. Jetzt gibt es laut WHO nur noch im Center for Disease Control and Prevention (CDC, der US-amerikanischen Seuchenbehörde) in Atlanta und dem Institut Vector in Koltsovo, Russland, Pockenviren.

Offenbar war die Impfflicht in zwei Fällen ein Erfolg – natürlich kann man darauf warten, dass die Masern wieder die Krankenhäuser füllen und die Folgekrankheiten ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Oder man kann darauf warten, dass Aufklärungskampagnen ihre Wirkung zeigen – das werden sie tun, wenn die Krankenhäuser wieder gefüllt sind. Das zeigen die schwankenden Impfraten bei Influenza immer wieder deutlich. Oder man kann hoffen, dass es alles nicht so schlimm wird – die moderne Medizin wird es schon richten. Vielleicht kann man aber auch die impfinduzierte gesellschaftliche Masern-Gedächtnislücke mit ein wenig Nachdruck überbrücken und so vielen künftig Kranken großes Leid ersparen. Masern sind eben kein Kinderkram und durchaus eine Impfpflicht wert.

(jsc)