Missing Link: Predictive Policing – die Kunst, Verbrechen vorherzusagen

In ersten Untersuchungen wird die Wirksamkeit vorausschauender Polizeiarbeit geprüft. Was bringt Predictive Policing? Und welche Daten werden dafür genutzt?

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Blaulicht, Polizei

(Bild: dpa, Silas Stein)

Lesezeit: 23 Min.
Von
  • Ulrike Heitmüller
Inhaltsverzeichnis

Ein Verbrechen geschieht. Kurz darauf ein Zweites, ähnliches, ganz in der Nähe. Die Polizei will die Verbrechen aufklären und hat dabei drei Ziele: Erstens, herauszufinden ob diese beiden Verbrechen möglicherweise den Anfang einer Serie bilden. Zweitens, wenn es nach einer Serie aussieht, zukünftige Verbrechen zu verhindern. Drittens, die Verbrechen aufzuklären und den Täter zu verhaften. Tja, und wie geht sie nun vor?

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Dieses Vorgehen ist seit ein paar Jahren im Umbruch. Die Polizeiarbeit hat vielerorts den Sonntagabend-Tatort hinter sich gelassen, bei dem man Netzwerke noch auf Flipcharts dargestellt und Tatorte und Fluchtwege mit Stecknadeln auf Karten gepinnt hat. Sie wird aber wohl auch nie so weit sein, dass sie wie in Philip K. Dicks "Minority Report" Präkogs einsetzt, die einen Mord vorhersehen, so dass die Polizei den potentiellen Mörder vor dem Mord verhaftet.

Wo aber steht die Polizei denn nun? Klar ist: Immer mehr Polizeibehörden nutzen "Predictive Policing", im Allgemeinen übersetzt als "vorausschauende Polizeiarbeit". In Deutschland funktioniert das meistens so, dass die Polizei einen Algorithmus nutzt, der Statistiken analysiert und wahrscheinliche zukünftige Tatorte und Tatzeiten nennt. Hat sie diese Einschätzung, reagiert sie, indem beispielsweise mehr Beamte zu der prognostizierten Zeit und an dem prognostizierten Ort Streife gehen. Eingesetzt wird Predictive Policing in Deutschland hauptsächlich für Serieneinbrüche, weil Serieneinbrecher sich erfahrungsgemäß einen gewissen Modus Operandi angewöhnen und gern in der Nähe eines Ortes wieder einbrechen, an dem sie schon einmal Erfolg hatten.

Das klingt gut, aber ich sehe offene Fragen. Vor allem diese drei:

  • Erstens: Um solche Algorithmen zu erstellen, braucht man Daten. Was sind das für Daten, und was geschieht mit ihnen?
  • Zweitens: Noch gibt es kaum Auswertungen. Aber bislang sieht es so aus, als ob Predictive Policing, so wie es in Deutschland angewendet wird, die Kriminalität kaum senkt. Wird es ausgeweitet, damit man seine Wirkung sieht? Wenn ja: wie?
  • Drittens: Predictive Policing ist ein wachsender Markt – wie gestalten Politik und Gesellschaft die Entwicklung und Nutzung?

In den 1990er Jahren entwickelte der New Yorker Polizeikommissar William Bratton das Statistikprogramm CompStat. Im Jahr 1994 führte das New York Police Department es ein als System zur Datenerfassung und -auswertung, und nach und nach wurde es von den meisten US-Polizeiabteilungen übernommen. Im Jahr 2002 zog Bratton nach Kalifornien und dort, im Los Angeles Police Department, entwickelte er auf der Basis von CompStat das erste Predictive-Policing-Modell, eigentlich als Rechercheprojekt des LAPD und der Uni Kalifornien. So entstand PredPol, das Predictive-Policing-System, das heute international am weitesten verbreitet ist. In den folgenden Jahren arbeiteten Polizeibehörden in immer mehr Staaten mit solchen Modellen.

In Deutschland begann man 2014 verstärkt mit Predictive Policing zu arbeiten. Kurz danach, im Januar 2015, beantwortete die Bundesregierung eine Kleine Anfrage der Linken dahingehend, es gebe für ein IT-gestütztes "Predictive Policing" keine allgemeinverbindliche Definition der Bundesbehörden. Allgemein lasse sich sagen, dass es sich um einen mathematisch-statistischen Ansatz handelt, der unter Nutzung von anonymen Falldaten und unter Annahme kriminologischer Theorien "Wahrscheinlichkeiten für eine weitere (gleichgelagerte) Straftat in einem abgegrenzten geografischen Raum in unmittelbarer zeitlicher Nähe (maximal sieben Tage) berechnet". Der Fokus liege auf dem Deliktsbereich Wohnungseinbruchdiebstahl.

Zwei Jahre nach dieser Anfrage brachte das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag eine Broschüre zum Thema heraus. Demnach gibt es im Großen und Ganzen vier Arten von Predictive Policing:

  • Verfahren, mit denen mögliche Örtlichkeiten und Zeiten mit einem erhöhten Kriminalitätsrisiko prognostiziert werden.
  • Verfahren, mit denen Individuen identifiziert werden, die zukünftig in Straftaten verwickelt sein könnten.
  • Verfahren, mit denen Profile erstellt werden, bei denen mögliche zukünftige Straftaten von Individuen mit bereits begangenen Straftaten abgeglichen werden können.
  • Verfahren, mit denen Gruppen oder Individuen identifiziert werden, die zukünftig Opfer einer Straftat werden könnten.

Aufgrund des Föderalismus verfolgen Bund und Länder eigene Projekte bei Predictive Policing. Was den Bund betrifft, so heißt es offiziell – in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP –, dass die Sicherheitsbehörden des Bundes derzeit keine softwaregestützten Prognosetechnologien im Sinne eines Predictive Policing nutzen und entwickeln. Allerdings beobachte das BKA in- und ausländische Lösungen und biete eine Plattform für den Erfahrungsaustausch an. In den Ländern werden unterschiedliche Tools eingesetzt: Bayern und Baden-Württemberg nutzen mit der kommerziellen Prognosesoftware "PRECOBS" (Pre Crime Observation System) des Instituts für musterbasierte Prognosetechnik IfmPt in Oberhausen den hiesigen Marktführer. Andere Landeskriminalämter nutzen Eigenentwicklungen: Hessen "KLB-operativ" (Kriminalitätslagebild-operativ) und Berlin "KrimPro" (Kriminalitäts-Prognose). Wieder andere nutzen oder entwickeln vorhandene Systeme weiter, wie Nordrhein-Westfalen mit "SKALA" (System zur Kriminalitätsauswertung und Lageantizipation) auf der Basis von SPSS Modeler von IBM. Und das LKA Niedersachsen arbeitet für sein Projekt "preMAP" (predictive Mobile Analytics for the police) mit IBM Cognos.

Das hauptsächliche Delikt, für dessen Bekämpfung in Deutschland Predictive Policing verwendet wird, ist serienmäßiger Wohnungseinbruchdiebstahl. Das hat mehrere Gründe: Einbrüche werden häufig angezeigt, die Dunkelziffer dürfte niedrig sein und die Datenlage dadurch einigermaßen verlässlich. Die Aufklärungsquote ist mit 15 Prozent ziemlich schlecht und jede Verbesserungsmöglichkeit willkommen. Außerdem haben Einbrüche bei den Opfern oft schlimme Folgen, und häufig sind es Serientäter, die Einbrüche begehen und sich, so die Erfahrung, ein bestimmtes Tatmuster angewöhnen und in der Nähe oft weitere Einbrüche begehen – vor allem, wenn der erste Einbruch "lukrativ" war.

Diese beiden Beobachtungen, "Perseveranz" und "Near Repeat", sind zwei Voraussetzungen dafür, dass Predictive Policing überhaupt funktioniert. Es gibt mehrere Voraussetzungen beziehungsweise soziologische und kriminologische Postulate, Hypothesen und Theorien, die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurden. Ohne sie wäre die Entstehung von Predictive Policing gar nicht möglich gewesen.