Missing Link: Predictive Policing – die Kunst, Verbrechen vorherzusagen

Seite 3: Eine Mailänder Studie – und was sie für uns bedeutet

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Es gibt Autoren, die Predictive Policing ausgewertet haben und Erfolge sehen. So hat Giovanni Mastrobuoni im Jahr 2014 einen Artikel über den Zusammenhang von IT und der Produktivität der Polizei geschrieben und arbeitet gerade an einer Überarbeitung, von der eine vorläufige Fassung vorliegt.

Wie William Bratton in New York und Los Angeles, hat auch in Mailand ein Einzelner Predictive Policing entwickelt und eingeführt. In Mailand war das Mario Venturi, damals leitender Polizeibeamter bei der Polizia. Im Jahr 2007 beschloss er, Daten von Verbrechensserien zu speichern und zu vergleichen. Er entwickelte eine Predictive-Policing-Software, KeyCrime (mit dieser hat er sich inzwischen selbstständig gemacht und ist der CEO des gleichnamigen Unternehmens) und überzeugte seine Vorgesetzten. Von da an begann nicht die, sondern eine Mailänder Polizei, mit Predictive Policing zu arbeiten. Eine Polizei, denn in großen italienischen Städten gibt es zwei: die Polizia und die Carabinieri. Sie tun dasselbe, reden aber wohl nur sehr wenig miteinander. Die Polizia begann mit Predictive Policing, die Carabinieri patrouillierten traditionell weiter. Abgesehen von der Nutzung der Software war zwischen Polizia und Carabinieri alles gleich aufgeteilt: Ausrüstung, Personal, sogar die Verteilung der Polizisten auf die Stadt – die ist in drei Sektoren unterteilt und ungefähr alle 6 Stunden beim Schichtwechsel werden die beiden Polizeikräfte unterschiedlichen Sektoren zugewiesen. Jeder kommt irgendwann überall hin – damit hat man eine Kontrollgruppe. Und dies hebt diese Studie von den anderen hervor. Mit der Kontrollgruppe kann man die Arbeit mit Predictive Policing und ohne vergleichen.

Die Polizia nutzt die Software für die Verfolgung gewerblicher Raubüberfälle (commercial robberies against businesses). Die Software sollte Zeitpunkt und Tatort zukünftiger Raubtaten prognostizieren, so dass die Polizia dementsprechend Patrouillen optimierte. Sie sollte aber auch die Behörden unterstützen, sobald ein Täter verhaftet war und das Verfahren lief. Man versuchte also, begangene Taten Räubern zuzuordnen und die Ermittlung zu unterstützen, sobald der Täter festgesetzt ist. Das Ergebnis gab keine Hinweise auf ein Produktivitätsgefälle zwischen Polizia und Carabinieri für den allerersten Raub einer Serie, man hatte ja noch keine Daten, um die Software zu füttern. Nachfolgende Raubüberfälle, die in den Polizia-Sektor fielen, wurden im Gegensatz zum Carabineri-Sektor mit einer Wahrscheinlichkeit von 8 Prozentpunkten mehr gelöst (die Gesamtaufklärungsrate beträgt 14 Prozent). Auch die Tatsache, dass die Aufklärungsquote bei jeder ersten Straftat einer Serie gleich war, spricht für die Wirksamkeit von Predictive Policing – wenn die Polizia da schon ihre höheren Quoten hätten, würde das dafür sprechen, dass sie einfach besser ist.

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Polizeibehörden versuchen per Predictive Policing zu prognostizieren, wo demnächst eingebrochen wird. Nur Phantasievorstellungen à la Precrime aus "Minority Report? Keineswegs: Überblick und Hintergrund zur "vorausschauenden Polizeiarbeit".

Das ist natürlich ein Erfolg. Die Italiener gehen aber anders vor als die Deutschen. Erstens untersucht die Mailänder Studie Raubüberfälle, nicht Wohnungseinbrüche. Zweitens ging es nicht nur um die Prognose von kommenden Tatzeiten und Tatorten, sondern auch darum, sozusagen rückwärts zu arbeiten und begangene Raubüberfälle aufzuklären. Drittens bedeutet "aufklären", dass zumindest ein Räuber verhaftet wurde. Wobei man aber sagen muss, dass die Polizia in den Jahren 2008 und 2009 fast 1000 Räuber verhaftet hat und nur einer freigesprochen wurde, die anderen bekamen im Schnitt ungefähr vier Jahre pro Mann. Viertens arbeitet die italienische Polizei scheinbar nach anderen ethischen Ideen: Manchmal hat sie zum Beispiel Undercover-Polizisten zu prognostizierten Opfern gestellt und sichtbare Polizisten an alternative Ziele postiert, um die Räuber davon auch abzuhalten. Der Erfolg von Predictive Policing hängt wohl auch von der Art ihres Einsatzes ab.

Die Firmen, die an Predictive Policing arbeiten, können einen sehr großen Markt erwarten. IBM hat aus SPSS "Blue Crush" entwickelt, das zum Beispiel von der Polizei in Memphis eingesetzt wird, um Kriminalitätsbrennpunkte zu identifizieren und so Kriminalität zu bekämpfen. Die Predictive-Policing-Software "PredPol", die auf Algorithmen aus der Erdbebenforschung basiert, ist Marktführer. Polizisten unter anderem in Los Angeles, in Atlanta und auch die Metropolitan Police in London nutzen das Programm. "Precobs" hat mit dem Institut für musterbasierte Prognosetechnik einen deutschen Anbieter, die Software wird in mehreren Bundesländern genutzt, um Einbrüche zu bekämpfen. Aber sie entwickeln sich auch, salopp gesagt, zu Datenkraken: Einem Artikel in "Das Parlament" zufolge wertet Palantir Technologies Inc. "für seine Vorhersagesoftware frei zugängliche Daten in sozialen Netzwerken aus und bietet die Ergebnisse unter anderem dem US-Geheimdienst CIA an." Accenture, eigentlich eine Management-Beratungsfirma, habe demnach ein Computersystem entwickelt, um Kriminelle zu erkennen. Die Guardia Civil in Spanien habe es eingesetzt und auch die Londoner Polizei. Accenture wolle damit nicht Orte von Kriminalität untersuchen, sondern gar einzelne Menschen aus Datensätzen filtern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Gewaltverbrechen begehen würden.

Die Polizei ist mit der Politik verbunden, und das birgt auch Gefahren. Nun ist die Polizei keine homogene Masse. In Österreich äußerten sich Polizisten ganz unterschiedlich zu einem Predictive Policing-Projekt, an dem sie mitgearbeitet haben. Polizisten auf dem Land waren skeptischer als jene in der Stadt, Ältere skeptischer als Jüngere, und Generalisten skeptischer als Spezialisten. Und es gab Vorbehalte, dass solche Projekte auch manchen als Karrierevehikel oder bei Auseinandersetzungen im Konkurrenzkampf dienen könnten. Auch in Deutschland reagierten unterschiedliche Bereiche von Polizeien unterschiedlich auf Predictive Policing. In einer Befragung in Baden-Württemberg zeigte sich folgendes Ergebnis: "Je höher die dienstliche Stellung ist, desto häufiger stimmten Befragte einem weiteren Einsatz zu."

Ich habe mit verschiedenen Mitarbeitern der Polizei gesprochen, die an der Arbeit mit Predictive Policing beteiligt waren: In Berlin zum Beispiel spricht einiges für den Erfolg des Systems, ebenso in Österreich. Die meisten Gesprächspartner von der Polizei waren vom Nutzen des Predictive Policing überzeugt. Aber ich muss dazu sagen, dass sie das Projekt gefördert hatten und an ihm beteiligt waren. Sie hatten also karrieretechnische Gründe, es zu loben. Aber das schließt natürlich nicht aus, dass sie aus sachlichen Gründen überzeugt waren. Auch die Zurückhaltung in der Bewertung in Studien spricht für eine differenzierte Sicht bei der Polizei.

Hohe Polizeiposten werden politisch besetzt. Mir gegenüber hat sich ein hoher Polizeibeamter vor einigen Jahren beklagt, dass solche Besetzungen immer weniger nach polizeilichen Verdiensten, und immer mehr nach politischer Geschmeidigkeit funktionierten. Nun aber sollte die Polizei zwar unabhängig von der Politik arbeiten, die Politik jedoch die Grundlagen für ihre Arbeit gestalten. So warnte die Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann, wissenschaftliche Koordinatorin der Interdisziplinären Arbeitsgruppe "Verantwortung: Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in einem Interview in "Das Parlament": Politik muss dafür sorgen, "dass unsere Werte realisiert werden und Zukunft entsprechend gestaltet wird. Dazu gehört es, Minderheiten zu schützen und unfaire Diskriminierung zu vermeiden. Und im Feld der KI bestehen eben diese Gefahren durch Datenbias, also verzerrte Daten, oder diskriminierende Algorithmen."