Klassiker neu gelesen: The Great Transformation

Das Werk des Wirtschaftssoziologen Karl Polanyi ist vor allem aus soziologischer Perspektive noch aktuell.

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Von
  • Cosima Ermert

Als Karl Polanyi Anfang der 40er-Jahre sein Buch "The Great Transformation" schreibt, tobt der Zweite Weltkrieg. Der ungarisch-österreichische Wirtschaftssoziologe versucht in den Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts Gründe für die Entstehung des Faschismus zu finden.

Er stellt die These auf, die Einführung der liberalen Marktwirtschaft habe zu einer Verselbstständigung der Ökonomie gegenüber der Bevölkerung geführt. Das Resultat: Kapitalismus. Dazu findet er direkt auf der ersten Seite seines Buchs radikale Worte: "Wir vertreten die These, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutet."

Am Beispiel von England diskutiert er den Wandel einer Agrargesellschaft zum Materialismus. Erstere ist von Gemeinschaft und Lebensunterhalt dominiert, Letzterer vom individuellen Streben nach Gewinn. Für Polanyi ist das "die große Transformation". Dieser Umbruch sei nicht, wie oft angenommen, natürlich gewachsen, sondern politisch motiviert und aufgezwungen. Beispielsweise durch den Wegfall der Armenunterstützungen, wodurch mehr Menschen in billige Stellen gezwungen wurden. Arbeit, Geld sowie Grund und Boden wurden zu "fiktiven Waren", der Bürger zum Anhängsel des Marktes degradiert. Das Resultat sei eine kulturelle und soziale Verwahrlosung. Schlussendlich spricht sich Polanyi für Grenzen der Marktwirtschaft aus – dabei klingt ein Hauch von Sozialismus durch.

Der Soziologe Robert MacIver schreibt in seinem Vorwort zur Erstauflage, Polanyi "gibt nicht vor, Geschichte aufzuzeichnen – er schreibt sie neu“. Einige Kritiker finden weniger wohlwollende Worte. Das Werk sei historisch fragwürdig, der Autor habe einzelnen Ereignissen zu viel Bedeutung beigemessen.

Wenn Polanyi jedoch schreibt, es sei ein Trugschluss der Marktwirtschaft, dass "alle menschlichen Probleme [...] durch das Vorhandensein einer unbeschränkten Menge materieller Güter" zu lösen seien, fühlt man sich auch als moderner Konsument unangenehm auf den Schlips getreten. Vielleicht nicht als historische, umso mehr aber als soziologische Lektüre eignet sich Polanyi noch in der heutigen Zeit, wo Themen wie Ausbeu- tung, Maximierung des Eigennutzens und Materialismus eine große Rolle spielen.

Karl Polanyi: "The Great Transformation", Suhrkamp Taschenbuch, 394 Seiten, 18 Euro.

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(jle)